Out of Kornwestheim

■ Gesichter der Großstadt: Der ehemalige Pfarrer Gerhard Weber (55) lebt in einem besetzten Haus und kämpft gegen die Umstrukturierung Prenzlauer Bergs

„Als es in der Dunckerstraße brannte“, sagt Gerhard Weber und zeigt den notdürftig reparierten Dachstuhl, „rechneten nicht wenige damit, daß dies die Isolation der Besetzer im Kiez zur Folge hat.“ Gerhard Weber lächelt, und man ahnt sogleich: nur das Gegenteil kann der Fall sein. Eine Kiezversammlung in der nahegelegenen Elias-Gemeinde wurde damals zur Solidaritätsbekundung für die BesetzerInnen. Heute, ein Jahr danach, liegen in den Geschäften des „LSD-Viertels“ (Lychener-, Schliemann-, Dunckerstraße) Flugblätter aus. Über sechzig Gewerbetreibende haben sich in einem Verein „Zusammenhalt“ zusammengetan, um bessere Verträge auszuhandeln und die gewachsenen Kiezstrukturen zu erhalten. Einer von ihnen ist Gerhard Weber.

Wir sitzen in einem Café in der Dunckerstraße. Gegenüber, im besetzten Haus Nummer 14, wohnt Gerhard Weber. Zusammen mit seiner Frau, sechs weiteren Erwachsenen und zwei Kindern hat er sich eine Etage im zweiten Quergebäude hergerichtet. Ein Porträt? fragt er. Eine Reportage über den Kiez wäre ihm lieber. Gerhard Weber gehört zu den wenigen Menschen, deren Glaubwürdigkeit man vom ersten Moment an nicht in Zweifel ziehen mag. „Wenn man mit den Menschen zusammen etwas unternimmt“, sagt er und stopft sich zum wiederholten Male die Pfeife, „dann hilft das nicht nur gegen die eigene Resignation, sondern auch gegen die Fremdenfeindlichkeit, die ja immer mit mangelndem Selbstwertgefühl zu tun hat.“ Gemeinsam mit der Bürgerinitiative „Wir bleiben alle“ und anderen Initiativen setzte sich Weber bis zuletzt dafür ein, daß die Anlaufstelle für AsylbewerberInnen auf den Pfefferberg kommt.

„Mir war es immer wichtig, daß das, was ich tue und wo ich bin, auch stimmig ist.“ Gerhard Weber war Pfarrer und blieb Christ. Den evangelischen Pfarrdienst im schwäbischen Kornwestheim hatte er nach achtzehn Jahren ebenso hingeschmissen wie seine Tätigkeit als SPD-Gemeinderat. „Der Zwiespalt wurde immer größer“, berichtet er. Der Kontakt zu einer Kirchengemeinde in Lateinamerika war der Beginn seiner politischen Entwicklung. Mit Gleichgesinnten gründete er in Kornwestheim 1973 eine Basisgemeinde und zog in eine Wohngemeinschaft, um auch „im Alltag die Solidarität zu leben“. Anfang der achtziger Jahre schließlich quittierte er den Pfarrdienst und zog mit seiner Gemeinde in eine Landkommune nahe Kiel. Er war in der Anti- AKW-Bewegung aktiv, demonstrierte am Bauzaun in Brokdorf und lebt noch heute vom gemeinsamen Verkauf selbstgemachten Holzspielzeugs.

Aus der schleswig-holsteinischen Zeit reicht auch der Kontakt zu einer Friedensgruppe in Stralsund. Nach der Maueröffnung besuchte man sich gegenseitig, und Weber und seine Frau beschlossen, dort hinzuziehen, wo sich die Vereinigung der Lebenswelten am ehesten vollziehen könnte – nach Prenzlauer Berg. „Hier habe ich vieles dazugelernt“, sagt er. „Das Wichtigste davon ist, zuzuhören.“ Gerhard Weber mag die leisen Töne. Das hebt ihn hervor in einer Zeit, in der die Schreihälse den Ton angeben. Um „Kopfgeburten“, wie er sagt, geht es ihm nicht, wohl aber darum, sich ein Stück lebenswerte Welt zu schaffen, „mit viel Phantasie und Freude“. Uwe Rada