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Aus Angst vor dem Sezessionsgespenst

■ Die Kanadier stimmen heute über ein ganzes Paket von Verfassungsreformen ab, die vor allem eins zum Ziel haben: die frankophone Provinz Quebec an einer Abspaltung zu hindern

Aus Angst vor dem Sezessionsgespenst

Womöglich hing die Zukunft der kanadischen Verfassung nicht am seidenen Faden, sondern an der Armmuskulatur von Tom Henke von den „Toronto Blue Jays“. Denn Henke warf Samstag nacht in der entscheidenden Phase des Baseballendspiels gegen die „Atlanta Braves“ den Gegnern die Bälle mit so viel Wucht um die Ohren, daß die kaum zum Ausholen, geschweige denn zum Schlagen kamen. Um Mitternacht stand es schließlich fest: Zum ersten Mal hat ein kanadisches Baseballteam den „Welttitel“ gegen die scheinbar so übermächtige Konkurrenz aus den benachbarten USA gewonnen.

Einer, der den „Blue Jays“ ganz besonders die Daumen drückte, war Kanadas Premier Brian Mulroney. Er tat das nicht nur aus Vaterlandstreue, sondern in der Hoffnung, seine Landsleute würden heute – euphorisch und patriotisch gestimmt – zu den Wahlurnen gehen und „Yes“ oder „Oui“ zur Einheit des Landes sagen.

Auf den ersten Blick geht es für die 18 Millionen Wahlberechtigten heute um eine simple Frage: „Sind Sie dafür, daß die Verfassung Kanadas auf Grundlage der Übereinkunft vom 28. August 1992 erneuert werden soll?“ Besagte Übereinkunft wurde an jenem Tag in Charlottetown auf Prince Edward Island an der kanadischen Ostküste getroffen. Mulroney, die Premierminister aller zehn Provinzen sowie Vertreter der beiden Territorien und der indianischen Völker hatten das Unmögliche möglich gemacht und sich nach einem Verhandlungsmarathon auf einen Kompromiß geeinigt, der vor allem eines zum Ziel hat: die frankophone Provinz Quebec mit 6,9 Millionen Einwohnern an einer Abspaltung zu hindern. Deren Parlament hatte angedroht, Ende diesen Monats erneut über die Souveränität Quebecs abzustimmen, falls das restliche Kanada nicht auf ihre Forderung nach mehr Rechten und Eigenständigkeit eingehen würde. Der Kompromiß von Charlottetown verspricht Quebec nun die Anerkennung als „selbständige Gesellschaft“ (distinct society), eine Etikette, die mit substantiellen Zugeständnissen angereichert ist: eine Garantie über 25 Prozent der Sitze im „House of Commons“, drei Sitze im Obersten Gerichtshof, der aus neun Richtern besteht, sowie ein faktisches Vetorecht bei allen Gesetzentwürfen, die die französische Sprache und Kultur betreffen.

Um die Übereinkunft auch den anderen Provinzen schmackhaft zu machen, sollen sie mehr Macht in der zweiten Parlamentskammer, dem Senat, erhalten. Dessen Mitglieder werden bislang ernannt, sollen aber in Zukunft nach US- Vorbild gewählt werden. Jede Provinz würde sechs Senatoren stellen. Den kanadischen Indianern und Inuit wird in dem Kompromiß das Recht auf Selbstverwaltung eingeräumt – ein indianischer Abgeordneter hatte 1990 bereits einmal die Annahme eines Verfassungsentwurfs verhindert. Auch Wirtschaftsverbände und die drei größten Parteien im Parlament in Ottawa signalisierten Ende August ihre Zustimmung zum Verfassungskompromiß. Die jahrelange Debatte um eine neue Verfassung schien zu Ende, das Sezessionsgespenst verscheucht. Das „Ja“ des Wahlvolkes, so versicherten die Demoskopen noch vor sechs Wochen, schien nur noch Formsache. Keiner ahnte, daß die Volksabstimmung zu einer Zitterpartie à la Maastricht werden würde. Letzte Meinungsumfragen ergaben, daß 49 Prozent der Kanadier gegen den Kompromiß und nur 41 Prozent dafür stimmen wollen. Zehn Prozent zeigten sich zwei Tage vor dem Referendum unentschieden. Mit einem „Nein“ wird vor allem in Quebec, British Columbia und Alberta gerechnet – die Ablehnung in einer Provinz würde genügen, um den Entwurf scheitern zu lassen.

Zwei Umstände haben maßgeblich zur wachsenden Widerspenstigkeit der Kanadier beigetragen: Zum einen haben sie, egal ob in Quebec, Ontario, Saskatchewan oder British Columbia, gemerkt, daß ein „Nein“ keineswegs einen „zweiten Libanon“ nach sich ziehen würde, den vor allem Mulroneys Kabinettsmitglieder heraufbeschworen haben. Denn in Quebec regiert mit Robert Bourassa zur Zeit ein Premierminister, der den Kompromiß mitträgt; die Sezessionisten um Jacques Parizeau, dem Vorsitzenden der „Parti Quebecois“, befinden sich zur Zeit in der Opposition. Zum anderen ist das Referendum keine Abstimmung über die Verfassung mehr, sondern ein Forum für Unmutsäußerungen nicht nur gegen einen extrem unpopulären Premierminister, sondern gegen das gesamte politische Establishment geworden. Dabei ist es in Kanada im Gegensatz zu den USA weniger ein Prozeß der Entfremdung von der Politik, der das Protestpotential wachsen läßt. Regierungskommissionen haben in den letzten Jahren in unzähligen Veranstaltungen die Bevölkerung um ihre Meinung gefragt. Herausgekommen ist nun ein Kompromiß, der zwar grobe Linien vorzeichnet, in entscheidenden Details aber nachverhandelt werden muß. Die Kanadier sind den Disput um die Verfassung leid. Ihnen geht es, wie der Chefredakteur des Toronto Globe, John Cruickshank, schreibt, „wie den US-Amerikanern an erster Stelle um Jobs. Aber dieser Kompromiß dreht sich vor allem darum, wer welche politische Macht ausüben kann. Das ist für die meisten Leute völlig unwichtig.“

Die „Nein-Fraktion“ in Kanada ist äußerst heterogen. Da ist zum einen die „Parti Quebecois“, die die Zugeständnisse des Kompromisses von Charlottetown für völlig unzureichend hält; da ist die erzreaktionäre „Reform Party“ um Preston Manning im Westen Kanadas, die den Frankophonen und den Ureinwohnern überhaupt keine Zugeständnisse machen will. Dagegen ist nicht nur die größte weiße Frauenorganisation des Landes, das „National Action Committee on the Status of Women“, sondern auch Organisationen indianischer Frauen. Sie befürchten, unter der männlich dominierten Selbstverwaltung indianischer Nationen Rechte zu verlieren, die ihnen nach kanadischen Gesetzen garantiert sind. Der Gegenbewegung hat nun noch Ex- Premier Pierre Trudeau Auftrieb gegeben. Trudeau, Föderalist in Herz und Nieren, hat den Kompromiß von Charlottetown scharf kritisiert, weil er der Provinz Quebec zu viele Privilegien einräume.

Wie es im Falle einer Ablehnung weitergehen soll, weiß so genau niemand. „Neuverhandeln“, sagen die einen, ein mehrjähriges Verhandlungsmoratorium in der Verfassungsfrage fordern die anderen. Kanada wird vorerst vereint bleiben, doch ein „Nein“ wird unweigerlich zur weiteren Polarisierung beitragen. In Quebec ist Premier Bourassa mittlerweile in den Verdacht geraten, nicht genug für die Provinz herausgeholt zu haben. Hier stehen in zwei Jahren Neuwahlen an. Sollte die sezessionistische „Parti Quebecois“ gewinnen, will sie in der Provinz erneut per Referendum über die Abspaltung abstimmen lassen. Dann könnte es endgültig zur Scheidung kommen– und die wird nicht im gegenseitigen Einvernehmen ablaufen.

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