: Kein orientalisches Märchen
Wer sich fragt, wie Hoyerswerda möglich wurde, hat in den Jahren davor die Augen zugemacht/ Eine miefige Luft hängt über den deutschen Landen ■ Von Kemal Kurt
Das muß man sich bildlich vorstellen: Ein türkischer Junge und seine Schwester wollen die Straße überqueren. Der dreijährige Junge wird angefahren und bleibt mit schweren Verletzungen liegen. Eine junge Frau, die den Unfall aus dem Fenster sieht, ruft die Polizei und den Rettungswagen an und geht mit ihrer Nachbarin zur Unfallstelle. Dort haben sich etwa 30 Schaulustige angesammelt. Sie bemitleiden – nein, nicht etwa den schwerverletzten Jungen, sondern den Autofahrer, der seinerseits um den Lackschaden besorgt ist. Schlimmer wird es, als die Mutter des Jungen laut klagend an die Unfallstelle kommt.
Da beginnen die Passanten zu schimpfen – auf die Türken im allgemeinen und die Mutter im besonderen. Sie sei hysterisch, heißt es, und ob sie wohl mit dem Messer auf den Autofahrer losgehen würde? Einige machen sich Gedanken über die Türken: Sie kämen in Massen ins Land, würden den Sozialstaat ausnutzen und dann auch noch Kinder in die Welt setzen. Es besteht weitgehend Einigkeit: „Gott sei Dank, ein Türke weniger!“ Als die beiden Frauen versuchen, mäßigend auf die Passanten einzuwirken, werden auch sie beschimpft. Keiner unternimmt etwas dagegen, auch die anwesenden Polizisten nicht.
Wer so etwas erlebt hat, fragt sich nicht, wie Hoyerswerda möglich war. Genauso hat es sich zugetragen, aber nicht etwa im wilden Osten und auch nicht in den letzten Monaten, in denen man angesichts der Übergriffe auf Ausländer unwidersprochen von einer Pogromstimmung in Deutschland reden kann. Es geschah am hellichten Tag im zivilisierten Westteil Berlins, im gediegenen Stadtteil Wilmersdorf in der Johann-Georg- Straße vor gut neun Jahren, am 12.7.1983. Noch unter dem Eindruck des Erlebten erzählte mir einige Tage später eine dieser jungen Frauen davon und bat mich, damit an die Öffentlichkeit zu gehen.
Damals hatte ich nicht die Möglichkeit. Außerdem dachte ich, ein Schriftsteller dürfe nicht mit dem Holzhammer arbeiten; seine Aufgabe bestehe in der Sichtbarmachung des scheinbar Unscheinbaren. Vor allem aber hatte ich Bedenken, wie ein abgebrühter Journalist an die trauernden Eltern heranzutreten. Ich hielt mich zurück. Eine Woche später konnte man in einer kurzen Meldung in der Zeitung lesen, daß das Kind seinen Verletzungen erlegen war.
Ich glaube zwar nicht an die gesellschaftsumwälzende Kraft des Geschriebenen und auch nicht daran, daß es heute anders gekommen wäre, wenn ich damals über diesen Vorfall geschrieben hätte. Trotzdem hätte ich es tun sollen. Ich fühle und bekenne mich mitschuldig an Hoyerswerda, weil ich vor neun Jahren geschwiegen habe. Heute reißt dieser Bericht niemanden mehr vom Hocker; heute ist es kein Unfall, wenn ein Roma-Kind mit Verbrennungen im Krankenhaus liegt.
„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, schrieb Paul Celan. Der Meister hat in der letzten Zeit Überstunden machen müssen. Rund 3.000 „Übergriffe“ auf Ausländer – einige mit tödlichem Ausgang – registrierte das Bundeskriminalamt für 1991, noch bevor es 1992 „richtig losging“. „Etwas stimmt nicht in Deutschland“, schrieb der ansonsten um Versöhnung bemühte Schriftsteller und Träger des Friedensnobelpreises Elie Wiesel, ein Überlebender der KZs in Auschwitz und Buchenwald, in einem Zeit-Artikel: „Es gab eine Zeit, da war ich überzeugt, Deutschland würde sich nie wieder von der Gewalt und der Häßlichkeit des Antisemitismus verführen lassen. Ich sagte mir, es werde eines der wenigen Länder der Erde sein, in denen der Haß kein Wohnrecht mehr hätte... Ich habe mich getäuscht. Ich sage das voller Trauer...“
Eine miefige, bleischwere Luft hängt über den deutschen Landen, über den neuen wie den alten. Am meisten stinkt es in Berlin. „Wer Streit sucht, für den ist Berlin das richtige Pflaster“, schreibt nach einem knappen Jahr Aufenthalt in der Stadt der australische Journalist Stephen Freeth mit britischem Sinn für Humor im Zitty-Magazin. „In Berlin setzt man den Fuß vor die Tür, und der Bürgerkrieg bricht aus.“
Als Türke, der seit über 17 Jahren in Berlin lebt, kann ich einiges darüber erzählen. Zum Beispiel, wie ich einmal von einer Hausverwaltung, bei der ich mich um eine Wohnung bewerben wollte, mit der Begründung weggejagt wurde, es gäbe genug Deutsche, die eine Wohnung suchten. Oder wie ich mir beim Schlangestehen in einem Kaufhaus Türkenwitze der Verkäuferin anhören mußte. Als ich dagegen protestierte, zog ich die Wut der Wartenden auf mich: „So weit kommt es noch, daß man sich nicht unter sich unterhalten kann“, hieß es, und: „Stimmt doch alles, oder nicht?“ Oder wie ich einmal auf der offenen Straße von einem jungen Burschen als „Ausländervieh“ beschimpft wurde. Doch, doch, ich könnte viel erzählen von kleinen Spitzen, die einem den Alltag vergällen – es muß nicht immer Totschlag sein. Aber dann heißt es, wir würden jammern, meckern, übertreiben. Dabei geht es mir lediglich um das, wovon Elie Wiesel schreibt, nämlich um „die Aufgabe und die Pflicht des Zeugen, zu sprechen, wachzurütteln und Alarm zu schlagen – eben Zeugnis ablegen“.
Nach einem Urlaub in England mußte ich schmerzhaft feststellen: Das gesellschaftliche Klima in Deutschland ist derzeit spürbar schlecht. Kurz angebundene Busfahrer, unfreundliche Verkäufer, ungeduldig drängende Autofahrer, rüpelhafte Leistungsradler, humor- und freudlose Menschen bestimmen das Straßenbild. Wehe, wenn du ihnen im Wege bist! Die Deutschen sind unzufrieden mit sich selbst und lassen ihren Frust mit Vorliebe an den Ausländern aus. Sie werden dazu ermutigt – von verantwortungslosen Politikern, die ungehemmt von „einer schleichenden Landnahme“ reden, von Medien, die mehr Schlag(!)zeilen als Informationen liefern, und von der gesetzlich unsicheren Lage der Ausländer.
Vor kurzem rief mich ein Freund an: Die Versicherungsgesellschaften lehnten es ab, sein neues Auto zu versichern, da Ausländer eine Risikogruppe bilden. Die wenigen Gesellschaften, die dazu bereit waren, wollten um 100 bis 150 Prozent höhere Beiträge kassieren. Das ist keine neue Praxis und gesetzlich erlaubt. Gäbe es hierzulande ein Antidiskriminierungsgesetz wie in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten, hätte er dagegen klagen können. Auch ein kommunales Wahlrecht für Ausländer wie in Schweden und den Niederlanden lehnen die Politiker mit Hinweis auf das Grundgesetz ab. Bei Artikel 16 hat man derlei Bedenken nicht. Es ist paradox, daß die Ausschreitungen der letzten Monate Konsequenzen für die Opfer haben und nicht für die Täter. Die Bundesregierung ist besorgt um ihr Image im Ausland und bangt um ausländische Investoren, denkt aber nicht daran, mit rechtlichen Verbesserungen für Ausländer ein entschiedenes Signal gegen den Rechtsradikalismus zu setzen.
Heute wie gestern ist die Ausgrenzung Absicht und Programm. Das Boot sei voll und Deutschland kein Einwanderungsland. „Wenn das Ausländerproblem sich löst, löst sich das Problem der Arbeitslosigkeit“, sagte 1982 der damalige Berliner Innensenator. Seine Saat trägt heute Früchte. Woher sonst wüßte der Rotzbengel aus Wismar, der keinen Türken aus der Nähe gesehen hat, aber für den die Türken laut Umfragen nach den Roma die unbeliebtesten Ausländer sind, daß Ali das deutsche Volk kaputtmacht? Wie der Meister, so der Lehrling.
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Die beiden Frauen haben damals in ihrem Umkreis eine Spendenaktion für die Überführung und Bestattung des Kindes initiiert. Viele halfen, es kamen zufällig, um 20 Pfennig aufgerundet, 1.001 DM zusammen – ein orientalisches Märchen ist dies aber leider nicht. Die zur Zeit des Unfalls im fünften Monat schwangere Mutter brachte ein behindertes Kind zur Welt. Die Eltern wurden wegen Verletzung ihrer Aufsichtspflicht angeklagt. Das Verfahren wurde später wegen Geringfügigkeit eingestellt. Niemand aus den Reihen der feixenden, hetzenden Zuschauer wurde belangt. Dabei steht in Paragraph 130 des Strafgesetzbuches: „Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt, sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft.“ Wie viele Politiker, frage ich mich, müßte man ins Gefängnis stecken, würde man diesen Paragraphen konsequent anwenden?
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