■ Türkische Minderheit nutzt Regierungskrise: Zwangsehe in Bulgarien
Wenn schon einen Tag nach dem Sturz der Regierung Dimitrow die Verhandlungen über ein neues Kabinett aufgenommen werden können, zeigt dies zweierlei: erstens, daß der vordergründige Auslöser des Rücktritts der Regierung, nämlich die Verstrickung eines Regierungsberaters in einen Waffenschieberskandal mit Makedonien, keineswegs tiefgreifende Interessensgegensätze zwischen der bisher regierenden „Union Demokratischer Kräfte“ und der sie stützenden Fraktion der türkischen Minderheit aufbrechen ließ. Und zweitens, daß die Koordinaten der bulgarischen Innen- und Außenpolitik keine Alternative zu dem regierenden Bündnis zulassen.
Die Kritik der türkischen „Bewegung für Rechte und Freiheiten“, die rund 15 Prozent der Bevölkerung vertritt, bezieht sich vor allem auf die strenge Austeritypolitik Dimitrows. Denn gerade die Schließung der subventionierten Industriebetriebe und die Auflösung der Kolchosen hat die türkische Minderheit noch mehr getroffen als die slawischen Bulgaren. Angesichts des Rückgangs der Industrieproduktion und des Absinkens des Lebenstandards konnten die Vertreter der Minderheit sich jetzt als Interessenvertreter auch breiter Schichten der slawischen Bulgaren profilieren, was bei den nationalistischen Spannungen der letzten Jahre nicht unerheblich ist. Nach der Regierungsneubildung, so deutete Staatspräsident Schelew an, werde das Tempo der Privatisierung gedrosselt. Vielleicht ziehen sogar bulgarische Türken ins Kabinett ein. So zeigt sich in Bulgarien eine Tendenz, die schon in Litauen für Überraschung sorgte: die Wirtschaftsreformen zu verlangsamen, sie sozial abzufedern und nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg durchzuziehen, wird in den Staaten Osteuropas zunehmend populärer.
Angesichts der nationalistischen Hetze von seiten der oppositionellen Ex-Kommunisten bleibt der türkischen Partei gar nichts übrig, als weiterhin die Demokratische Union zu unterstützen. Und die Demokratische Union tut gut daran, die Hilfsbereitschaft der Türkei – die ja mit Krediten und Märkten lockt – nicht zu verspielen. Außenpolitisch ist Bulgarien nämlich auf die Hilfe der Türkei angewiesen. Angesichts des Krieges in Bosnien-Herzegowina, der Spannungen um das Kosovo und Makedonien, angesichts der Annäherung zwischen Serbien und Griechenland – Milošević hat ja zu einer griechisch-serbischen Konföderation aufgerufen – ist die Türkei sogar zu einem potentiellen militärischen Bündnispartner Bulgariens aufgerückt. Der Waffenschieberskandal mit Makedonien jedenfalls bildet auf diesem Hintergrund kein Hindernis, das Bündnis der Demokratischen Union und der türkischen Partei zu festigen. Erich Rathfelder
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