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Doch keine Neuwahlen in Bulgarien

Nach dem Rücktritt des Premiers Dimitrow wird die „Union Demokratischer Kräfte“ weiterhin durch die türkische Minderheit gestützt/ Privatisierungstempo soll gedrosselt werden  ■ Von Roland Hofwiler

Die Regierungskrise in Bulgarien soll offenbar ohne Neuwahlen überwunden werden. Wenige Stunden nach dem Sturz der Minderheitsregierung Filip Dimitrow begann dessen Partei am Donnerstag nach eigenen Angaben mit Vorbereitungen zur Bildung eines neuen Kabinetts. Dabei war auch eine formelle Koalition mit der Partei der türkischen Minderheit im Gespräch, die dem Kabinett die bisherige Unterstützung bei einer Abstützung am Mittwoch abend entzogen hatte.

Ein Auftrag von Staatspräsident Schelju Schelew zur Regierungsbildung an die antikommunistische Union Demokratischer Kräfte (SDS) Dimitrows wurde noch im Laufe des Tages erwartet. Dimitrow, der seit einem Jahr die erste nichtkommunistische Regierung Bulgariens in fast 50 Jahren führte, hatte unmittelbar nach seinem Sturz erklärt, er sei bereit, die Amtsgeschäfte wieder zu übernehmen. Seine Regierung war am Mittwoch abend überraschend bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage gescheitert, weil die 24 Abgeordneten der „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ (DPS) der türkischen Minderheit ihm mehrheitlich die Gefolgschaft verweigerten. Darauf hatte die Regierung ihren Rücktritt erklärt.

Eine hitzige Parlamentsdebatte war der Vertrauensabstimmung tags zuvor schon vorausgegangen. Die Angriffspunkte: Angeblich heimlicher Waffenhandel mit der ex-jugoslawischen Republik Mazedonien, eine zu radikale Wirtschaftsreform auf dem Rücken der Arbeitnehmer und eine Landreform, die vor allem die türkischen Kleinbauern in den traditionell unterentwickelten Landesteilen benachteiligt. Selbst Staatspräsident Shelju Shelew übte in den letzten Tagen offene Kritik am „selbstherrlichen Regierungsstil“ und „sozial unvertretbaren Reformplänen“, was besondere Signalwirkung hatte, ist der ehemalige Altdissident doch der Gründer der „Union der Demokratischen Kräfte“ und gilt nach wie vor für die Bulgaren als demokratische Gallionsfigur schlechthin.

Die wirtschaftliche Ausgangslage des kleinen Balkanstaates (neun Millionen Einwohner) ist in der Tat prekär: 40 Prozent aller Bürger leben am Rande des Existenzminimums, eine halbe Million ist arbeitslos, die Industrieproduktion fiel in diesem Jahr um ein Fünftel, die Jahresinflation kletterte auf 80 Prozent, 11 Milliarden Dollar betragen die Auslandsschulden, Energie-, Rohstoff- und Transportprobleme stellen die Industrie vor schier unlösbare Aufgaben. Obwohl der Internationale Währungsfonds Dimitrows Wirtschaftskurs als „vorbildlich“ lobte und der amtierende US-Außenminister Eagleburger Bulgarien kürzlich als das „am besten gehütete Geheimnis“ in Osteuropa anpries, dessen zukünftige Wirtschaftskraft bald die Reformstaaten Ungarn und Tschechoslowakei überflügeln könnte, steht es mit der politischen Stabilität lange nicht mehr zum Besten. Kommt es noch nicht zu großen sozialen Unruhen und Streiks, so treibt der Nationalismus auch in Sofia immer wildere Blüten.

Nicht wenige „Großbulgaren“ spekulieren langfristig auf eine Vereinigung mit Mazedonien, sind jetzt schon bereit, ihnen militärisch gegen die „Großserben“ beizustehen, während sie andererseits die 900.000 türkischen Landsleute lieber heute als morgen außerhalb Bulgariens wissen wollen. In diesem Jahr verließen etwa 50.000 bis 100.000 Türken das Land. Immer wieder werden die gleichen Gründe angegeben: Schikanen mit Behörden und Diskriminierung durch Nationalisten. Präsident Schelew sprach in diesem Zusammenhang bereits von einem „Balkankomplex“, der sich in seinem Land breit mache.

Ob in Kirche, Politik oder Wirtschaft, fast überall verzettelten sich die Akteure in ideologischen Konflikten, persönlichen Intrigen und Verschwörungen, während sich auf der alltäglichen Behördenebene alte Machtstrukturen, nun gepaart mit extremem nationalistischem Gedankengut, noch immer halten könne.

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