: Die Unbestechlichen
Eine eigene Gesellschaft mit eigener Moral: Die „Berlin Independence Days“ im fünften Jahr ■ Von Thomas Groß
Nicht wahr: „Berlin Independence Days“ war einmal als schicker Name gedacht – „Börlinn“ als Treffpunkt aller musikmachenden Kellerkinder dieser Welt. Wenn er heute ein wenig abgehangen klingt, kulturell angekränkelt wie „Hofer Filmtage“ oder „BadenBadener Tage des unabhängigen Schriftstellerwesens“ (falls es sowas geben sollte), dann hat das nicht nur mit dem Ende der Insellage zu tun, dem raschen Zerfall der Mauerstadt-Mythen und der daraus sich speisenden Boheme- Lebensentwürfe. Trotz deutlich weniger Ständen ist das Rahmenprogramm der kurz BID genannten Veranstaltung üppig, Teile der Ost-Szene sind hinzugekommen (etwa in Gestalt der „Deutschen Schallplatte Berlin“ und verschiedener Clubs). Alles geht seinen halbwegs soliden Gang mit Panels, Showcases und dem üblichen Messe-Brimborium. Bloß was „independent“ eigentlich heißen soll, ob es ein ökonomisch, ethisch oder sonstwie zu fassender Begriff ist, war noch nie so unklar wie heute. Wir erinnern uns an den Präzendenzfall „Sozialismus“: Smells like Yesterday's spirit.
Zeiten für Mahner und Vorwortschreiber. „Popmusik ist kein Lebensmittel mehr, kein Mittel zum Überleben“, heißt es in einer Note zum Begleitprogramm aus der Feder von Wolfgang Doebeling, der die BID in den fünf Jahren ihrer Existenz als „General Manager“ betreut hat und jetzt, ein wenig verbittert scheint's, aus dem Amte scheidet. Nicht ohne Grund: „In den Geschichtsbüchern steht, Rock'n'Roll sei einst Ausdruck und Antriebsfeder gesellschaftlicher Veränderungen und individueller Rebellion gewesen.“ Also so ähnlich wie der Sozialismus. Bloß heute eben nimmer: „Die Lehrer kriegen feuchte Augen, die Kids gähnen.“
War „Independent“ also eine pädagogische Idee? Ja und nein. Die Idee an sich war gut, will Doebeling uns sagen, und sie ist es noch immer; allein sie geriet in die falschen Hände. Am Ende war sie gar zu sehr IM-durchseucht. Wer hat uns verraten – die Journalisten. Die immer nur Promo-Waschzettel abgeschrieben haben. Und die Industrie. „Es ist wahr“, so Doebelings Conclusio, „der Musikbetrieb ist heute, auf Gedeih und Verderb, in den Händen von verdammten Anwälten.“
Nun mag das so ganz falsch nicht sein. Der rasche Takt, in dem ständig neue Tonträgertechnologien lanciert werden (zur Zeit etwa die von Sony entworfene Mini- Disc), degradiert Rock'n'Roll mehr oder weniger offen zu einem ästhetischen Gleitmittel für die zu berappende Hardware, und viele Journalisten richten sich offen darauf ein. Bloß: Dolchstoßlegenden sind keine Analysen, und dem Kapitalismus entkommt man nicht einfach durch die Hintertür. Wie schlecht es um den Independent- Gedanken steht, zeigt nichts so deutlich wie die Tatsache, daß er bevorzugt im idealistischen Gewand auftritt: als latent weinerliches Plädoyer für den Musikmenschen als Liebhaber und Überzeugungstäter. Der ist affektiv, fast suchtähnlich mit dem Produkt verbunden, das er herstellt, verteilt oder bewirbt. Außerdem sperrt er sich mit allen Mitteln gegen Innovationen. Am meisten haßt er Neuerungen, die einen einmal als natürlich angenommenen Standard der Aufnahmetechnik bedrohen. Dann steht der Überzeugungstäter auf, hält religiöse Reden gegen die schädlichen Einflüsse der Compact Disc auf den Klang von Gitarren und verklärt die gute alte Schallplatte zur Hostie. Es ist ein Asterix-Szenario, das Doebeling ausmalt: Die ganze Welt ist volldigitalisierter Mainstream geworden, bloß ein paar Aufrechte verteidigen die authentische Welt des Vinyls gegen Eindringlinge von außen.
Der offenkundige Heroismus dieser Attitude wäre kaum haltbar, gäbe nicht auch ein ökonomischer Trend ihm Recht: entgegen anderslautenden Prognosen wird die Schallplatte vorerst nicht sterben (und damit – trotz des übermächtigen Schattens der Kölner PopKomm – wohl auch nicht die BID). In diesem Jahr gab es eine ganze Reihe von Ständen, an denen offensiv mit dem Verzicht auf CD, MC, DCC, MD und anderes Teufelszeug geworben wurde, von Doebelings Vinyl-only-Label „Exile Records“ (!) ganz zu schweigen. Die Cover sind liebevoll gemacht, das Repertoire aus profunder Sachkenntnis zusammengestellt. Alles atmet einen Purismus, der allerdings in jeder Hinsicht seinen Preis hat: Zum einen sind Liebhabereditionen kein Ramsch (wollen dementsprechend bezahlt sein), zum anderen nähert sich Rock'n'Roll durch die Konservierung seiner Produktionsbedingungen mehr und mehr dem Zeitalter seiner realen Verkunstung. Das ist die des öfteren diagnostizierte Klemme, in der sich der Independent-Begriff bewegt, und für die er auf seinem heroischen Auge blind ist: Rock'n'Roll, mit allem, was ideologisch daran hängt, ist in seiner Liebhaberform heute ein Minoritätenbereich. Als solcher bietet er ungeahnte Möglichkeiten des Austauschs unter Experten (Stichwort: Jäger und Sammler), kann aber aufgrund seines konservativen Charakters nur schwer noch ans technologische und gesellschaftliche Ganze anschließen – auch in einem subversiven Sinn.
Pastorale Töne helfen da nichts. Allen Versuchungen zum Trotz, die Nische zur Avantgarde umlügen, hat der Indie-Überzeugungstäter es heute schwerer denn je. Durch immer wieder neue Differenzierungen und Manöver muß er sich vor dem Schicksal des bloß Kunstgewerblichen (Rock'n'Roll wird Briefmarke) schützen, und wittert dabei – aus seiner Perspektive zu Recht – überall Verschwörung. Kann nicht genügend Sinn mobilisiert werden, um die heroische Idylle immer wieder neu von innen heraus zu wärmen, so befindet man sich plötzlich auf einer Stufe entweder mit dem Multi (dessen Minoritätenpendant man faktisch ist) oder aber mit dem Hippie-Schmuckverkäufer, der draußen ganz authentisch vor sich hin friert.
Beides sind Perspektiven, die den Independent-Gedanken nicht gerade voranbringen. So hat es auch in diesem Jahr nicht an Versuchen gefehlt, den Horizont anderweitig auszudehnen. Unter dem Titel „Looking East“ etwa wurde wieder einmal über die Chancen nachgedacht, die reale Verostung Berlins als Standortvorteil zu nutzen und die postsozialistischen Staaten als Handelspartner für unabhängige Musikstile zu gewinnen. Mit negativer Zwischenbilanz. So wenig, wie die Jugend dort noch etwas vom Sozialismus wissen will, so wenig zündet unmittelbar die Independent-Idee. Die westliche Roots-Bewegung ist ja selbst erst auf dem Boden einer entwickelten Popkultur denkbar, als deren puristischer Gegenpol sie verfeinerte, „authentische“ Bedürfnisse befriedigt. Genau dieser Standard scheint im früheren Ostblock (noch) nicht erreicht zu sein. Zwar schlummern nach Meinung der Experten ungeahnte Potentiale im Hinterland, doch entweder ist man derart independent, daß die Musik – ohne die Zwischenstufe der Konservierung – von der Hand oder dem Mund ins Ohr geht; oder aber auf den Schritt aus der Tradition heraus in die Technologie folgt die im Indie-Lager geächtete Orientierung an – meist groben – westlichen Mustern: Michael Jackson und Phil Collins. Zu allem Übel erfordern die oft ungeklärten Eigentums- und Copyright-Verhältnisse auch noch frühkapitalistischen Unternehmergeist. Trotz einiger Showcases mit GUS- und polnischen Bands im Tacheles: Der Aufschwung Ost wird auch hier noch eine Weile auf sich warten lassen.
Nicht sehr viel besser sieht es auf dem Gebiet der „Weltmusik“ aus, für die bereits im zweiten BID-Jahr mit Konzerten und Diskussionsveranstaltungen geworben wurde. Hauptproblem der „World Music“: Es gibt sie eigentlich nicht. „Weltmusik“ ist zunächst einmal ein Etikett, das eine Vielzahl nicht eurozentrischer, nicht anglophiler oder sonstwie randständiger Musiken, also quasi den Rest der Welt, unter einem griffigen Stichwort zusammenfaßt. Der Konsument kann sich daraus auswählen, was ihm in den Kram paßt. Das tut er in der Regel auch. Plattenhändler aus dem Hamburgischen klagten über die mangelnde Bereitschaft ihrer Kunden, sich auf Experimente einzulassen. Wer auf Bauchtanzmusik steht, kauft immer nur Bauchtanztaugliches. Ebenso verhält es sich mit African Dance, Soca, Salsa, Merengue, Cajun, Bluegrass, Klezmer usw. Nur allzu oft entpuppt sich der Weltmusik-Fan als geistiger Regionalist, und entsprechend minoritär sind nach wie vor die Gewinnspannen. Wie die Horizonte hier aufzureißen sind, die Idee von „One World“ in die Hirne der Konsumenten reinzukriegen ist, wie diese überhaupt mit dem Ethos des Unabhängigen und Eigenständigen in Übereinstimmung zu bringen ist, wurde in den Diskussionen kaum angeschnitten. Man hofft bescheiden auf allmähliche Verbesserungen der Vetriebswege und des Bewußtseins.
Nicht gerade das passende Rezept, um Pop/Rock als Manna, als „Lebensmittel“ und „Antriebsfeder gesellschaftlicher Veränderungen“ zu rehabilitieren. Ein wenig Katzenjammer war immer zu spüren auf den diesjährigen „Independence Days“, trotz fließender Senatsförderung und teilweise sehr guter Konzerte. Noch haben sich die Unbestechlichen mit der ihnen zugedachten Nische nicht abgefunden, und schon ist sie alles andere als krisensicher; noch träumt man von vergangenem Glanz, und schon soll man sich mit einigermaßen kleinen Brötchen zufrieden geben. Kim Fowley, Produzentenlegende und „Juke Box Phantom“, brachte auf einem der Panels das Erfolgsgeheimnis des künstlerischen Kleinunternehmers im Independent-Sektor auf einen entsprechend nüchternen Nenner: „to work hard and to have the constitution of a dead person“.
Fowley, als Legende bald älter als die Indie-Idee selbst, war es auch, der durch seinen Auftritt im musikalischen Rahmenprogramm das Verhältnis Rock'n'Roll/Kunst auf überraschende Weise neu zur Diskussion stellte. Er kam nämlich nicht nur mit anderen lebenden Legenden wie Ivan Kral (Patti Smith-Group, Iggy Pop) oder Chris Wilson (Flamin' Groovies) auf die Bühne, sondern auch mit drei Gogo-Girls. Während letztere sich mählich zu entkleiden begannen, fuhrwerkte die Mannschaft dazu auf den Gitarren herum – dumpf, wie Rock'n'Roll nun mal ist.
Als plötzlich im entscheidenden Moment die Lichter ausgingen und die Band samt Gogos von der Bühne verschwand, waren nicht wenige im Publikum geneigt, das für einen wenngleich verspäteten, so doch radikalen Akt der Moderne zu halten: Düpierung von Erwartungshaltungen im Dienste totaler künstlerischer Revolution. Wie sich herausstellte, war aber bloß Burkhard Seiler, Berliner Größe und Betreiber des Plattenlabels „Zensor“, eingeschritten. Zu Diskussionen sei es hinter der Bühne gekommen, verkündete ein Sprecher wenig später, uneinig sei man sich über diverse ästhetische Fragen gewesen, etwa: Darf Rock das? Heute noch? Vielleicht, wenn man ihn als Kunst begreift? Weite Teile des Publikums schienen dagegen nichts weiter zu wollen als Sex, Drugs & Rock'n'Roll.
Die Band kam dann auch tatsächlich noch einmal zurück, um drei Stücke runterzuschrubben, allerdings lustlos und ohne Gogos. Also doch Rock'n'Roll. Also doch Kunst.
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