: Die Vertreibung darf nicht hingenommen werden
■ Wenn die Weltöffentlichkeit bereit ist, die durch die Vertreibungspolitik geschaffenen Tatsachen anzuerkennen, legitimiert sie die Verbrechen der Nationalisten. Friedensgruppen fordern...
Die Vertreibung darf nicht hingenommen werden
Das „bosnische Dubrovnik“ nannte man Jajce. Die inmitten hoher Berge idyllisch gelegene Kleinstadt ist seit gestern ein einziges Trümmerfeld. In einer verlustreichen Kesselschlacht fiel die historische Stadt in die Hände serbischer Eroberer. Hunderte Menschen sollen auf beiden Seiten ums Leben gekommen sein, Zehntausende sind nun auf der Flucht.
Jajce wurde nach wochenlangen Kämpfen erobert, zuletzt mit Hilfe von Kampfbombern und Kampfhubschraubern. Obwohl die UNO ein generelles Flugverbot für Militärmaschinen über ganz Bosnien verhängte, unternahm die internationale Staatengemeinschaft nichts, um die Bombardements aus der Luft zu stoppen. Nun ist Jajce „befreit“, wie das Belgrader Fernsehen jubelt, nun sind die serbischen Aggressoren in ihrem Eroberungsfeldzug noch einen Schritt weiter gekommen: Nach dem Fall von Bosanski Brod vor drei Wochen beherrschen die Serben ein so kompaktes Territorium in Bosnien, daß sie jetzt beginnen können, ihr Eroberungsgebiet politisch abzusichern.
Strategisch gesehen kann diese „Freie Serbische Republik“, die von Knin im Westen über Banja Luka entlang der Save-Tiefebene nach Serbien reicht, mit keiner Armee des Balkans mehr zurückerobert werden. Nur eine internationale Streitmacht könnte die Serben in die Knie zwingen. Eine historische Parallele gibt zu denken: Als im November 1943 die kommunistische Partisanenarmee unter Josip Broz Tito in Jajce, dem mittelalterlichen Königssitz, das „freie Jugoslawien“ ausrief und an die Achsenmächte appellierte, ihr zur Hilfe zu eilen, wendete sich das Blatt auf dem Balkan: Die Truppen Italiens und Deutschlands wurden in die Flucht geschlagen, Jugoslawien vom Faschismus befreit.
Fast 50 Jahre später prahlt der Belgrader Cetnik-Führer Vojislav Seselj: „In Jajce werden wir das neue Serbien ausrufen.“ Großserbien scheint Realität zu werden, auf dem Schlachtfeld werden die politischen Grenzen gezogen. Nur so ist zu verstehen, weshalb Milosevic, Seselj, Karadzic und andere Serbenführer für den Vance- Owen-Plan, Bosnien in zehn Kantone politisch neu zu strukturieren, nur ein müdes Lächeln aufbringen und von „unannehmbaren Vorschlägen“ sprechen.
Aber auch der selbsternannte Präsident der kroatischen Republik „Herzeg-Bosna“, Mate Boban, läßt aus seiner bosnischen „Hauptstadt“ Mostar verlauten, der Vance-Plan sei „undurchführbar“, und deshalb müsse man ihn ablehnen. Abgelehnt hat ihn in einer Radioansprache am Donnerstag abend indirekt auch der kroatische Präsident Franjo Tudjman. In einem Appell an die bosnische Regierung unter Alija Izetbegovic warnt er seinen Amtskollegen, nicht länger an der Vorstellung eines unteilbaren Bosnien festzuhalten. Tudjman hielt sich bezeichnenderweise mit seinen Angriffen gegen Belgrad zurück. Weder sprach er von „Völkermord“ in Bosnien noch vom „faschistischen Milosevic-Regime“. Begriffe, die der kroatische Präsident früher gerne in den Mund nahm.
In Sarajevo mutmaßt man unterdessen, daß es einen erneuten Kuhhandel zwischen Serben und Kroaten gegeben haben könnte. Halten sich seit dem Fall der Stadt Bosanski Brod hartnäckig Gerüchte, wonach die Industriestadt an der Save für die Halbinsel Prevlaka südlich von Dubrovnik „getauscht“ wurde, so soll nun Jajce von kroatischer Seite den Serben zugesprochen worden sein. Dafür wollen die Serben die einst mehrheitlich von Muslimen bewohnte Stadt Travnik nicht weiter unter Beschuß nehmen. Jene Stadt in Zentralbosnien, die nach Vorstellung Mate Bobans als „Provinzhauptstadt“ neben Mostar Teil der „Republik Herzeg“ werden soll.
Wenngleich dies nur Gerüchte sind, schaffen sie böses Blut zwischen den ehemals Verbündeten. Kroaten und Muslime liefern sich seit Tagen in der Gegend um Travnik Gefechte. Alle Versuche, zwischen den lokalen Kommandanten zu schlichten und sie zur Vernunft zu bringen, scheiterten bisher. Doch genau in Richtung Travnik setzte sich gestern ein großer Flüchtlingstreck aus Jajce in Bewegung. Für Zehntausende Muslime und Kroaten das letzte Schlupfloch, um dem serbischen Terror zu entkommen. Doch ob alle Vertriebenen die Strapaze durchstehen werden, ist fraglich. Der dreißig Kilometer lange Fluchtweg führt über das bereits schneebedeckte Vlasic-Massiv, in Travnik selbst sind Medikamente und Lebensmittel knapp. Auch die örtlichen kroatischen Behörden sind auf weitere Flüchtlinge nicht gut zu sprechen. Über 50.000 Menschen sollen in der Industriestadt bereits Zuflucht gesucht haben.
Menschen, die in Europa niemand aufnehmen will. Seit über einer Woche hat das Internationale Rote Kreuz von den serbischen Behörden in Bosnien die Genehmigung erhalten, 5.000 muslimische Männer aus Internierungslagern zu evakuieren. Doch weder die kroatische „Republik Herzeg“ noch das Mutterland Kroatien sind bereit, diesen Gefangenen zumindest vorübergehend Zuflucht zu gewähren. Nur wenn das Rote Kreuz feste Zusagen von anderen europäischen Staaten vorlegen kann, die sich verpflichten, Gefangene aufzunehmen, erlauben die Kroaten den Muslimen die Durchreise. In dieser Woche waren es gerade 202 Gefangene, die dieses Privileg zugestanden bekamen. Die Schweiz hatte sich bereit erklärt, 200 kranke Insassen aus dem serbischen Internierungslager Trnopolje bei Prijedor aufzunehmen. 202 Männer, deren Berichte darauf schließen lassen, daß die Serben weiterhin Massenerschießungen durchführen.
Angesichts des Elends der Kriegsflüchtlinge in Bosnien appellierte die katholische Deutsche Bischofskonferenz gestern an staatliche Stellen und Gemeinden in der BRD, durch großzügige Regelungen zur vorübergehenden Aufnahme dieser Menschen beizutragen. Roland Hofwiler
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