: Eierpieker, Abtreibung und ein blinder Taxifahrer Von Ralf Sotscheck
„Von Sheffield nach Grimethorpe sind es höchstens zehn Meilen“, behauptet der Taxifahrer. „In einer Viertelstunde sind wir da.“ Da es mit öffentlichen Verkehrsmitteln eine Tagesreise wäre, steige ich in sein „Black Hack“, ein ziemlich betagtes Exemplar der bekannten englischen Großtaxis. Der Fahrer ist gesprächig. Er heißt Tom, ist Ire, etwa Mitte 50 und vor 20 Jahren nach Sheffield ausgewandert. Tom greift zu seinem Funksprechgerät und erkundigt sich bei der Zentrale nach dem Weg. Das hätte mich mißtrauisch machen müssen. „Die Zentrale behauptet, es sind mindestens 20 Meilen bis Grimethorpe“, sagt Tom bedauernd. „Die Gegend westlich, östlich und südlich von Barnsley kenne ich wie meine Westentasche“, entschuldigt er sich. „Aber nördlich davon war ich noch nie.“ Genau dort liegt aber das Bergarbeiterdorf unglücklicherweise. Kaum haben wir Barnsley hinter uns gelassen, da hat sich Tom auch schon verirrt. Er hat zielstrebig eine Sackgasse angesteuert. Weder der Milchmann noch der Briefträger haben je von Grimethorpe gehört. Tom fährt offenbar ziellos durch die Gegend, bis er mich fragt: „Hast du eine Ahnung, wo wir sind?“ Nein, habe ich nicht, aber ich erkenne die Kirche am Straßenrand: Zehn Minuten zuvor standen wir an derselben Stelle. Tom sagt anerkennend: „Du hast ein ausgezeichnetes Gedächtnis.“ Sein Taxameter leider auch. Nachdem uns auch die Ladenbesitzerin, der Jogger, ein älteres Ehepaar mit Hund und vier US-amerikanische Touristinnen nicht weiterhelfen können, kramt Tom eine verblichene Landkarte aus dem Handschuhfach. „Wir sind hier“, behauptet er und zeigt auf eine dünne Linie, die laut Glossar „eine Straße minderer Qualität“ darstellt. Könnte stimmen. Wir sind inzwischen auf einem Feldweg. „Wir wollen auf die B976“, sagt Tom und hält mir die Landkarte hin. „Hier steht aber B6273“, wende ich ein. Tom bestreitet das. Erst als er sich die Karte eine Handbreit vor die Nase hält, gibt er mir recht. Er ist fast blind. Das erklärt die vielen Beulen in seinem Taxi. Entweder ist es ein Alptraum, oder ich spiele unfreiwillig bei „Vorsicht, Kamera“ mit. Tom ändert die Taktik und fragt: „Was willst du überhaupt in diesem Grimethorpe?“ Ich erkläre, daß ich für eine deutsche Zeitung über die Stillegung des Bergwerks berichten will. „Ich war mal vor 25 Jahren in Deutschland“, versucht Tom von der Tatsache abzulenken, daß er soeben den Abzweig auf die B6273 verpaßt hat. „Dort gibt es Eierpieker.“ Eierpieker? „Ja, kleine Plastikdinger mit einer Nadel im Boden.“ Und wie kocht er Eier? „In Irland legt man sie vorsichtig ins Wasser. Wenn sie platzen, hat man Pech gehabt. Es ist wie mit der Abtreibung: Auf indirekte Art, zum Beispiel durch Bestrahlung bei Krebs, ist das okay. Aber vorsätzliche Abtreibung ist verboten. Deshalb darf man auch Eier nicht anpieken.“ Klingt irgendwie logisch.
Nach insgesamt anderthalb Stunden Fahrzeit sind wir schließlich am Ziel. Auf der Einfahrt zum Bergwerk übersieht Tom die riesige Bodenwelle aus Beton, die Autos zum Langsamfahren zwingen soll. Während der Pförtner wie ein geölter Blitz aus seinem Häuschen schießt, bohrt sich mein Kopf in das Dach des Taxis.
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