: Suche nach dem gemeinsamen Gefühl
Trauerfeier für Petra Kelly und Gert Bastian: Reden über die Toten, als lebten sie noch/ Die internationale Anerkennung für beide wird zum ersten Mal im eigenen Land in aller Vielfalt sichtbar ■ Aus Bonn Heide Platen
Grüner Farn und Gerbera: Die Blumengestecke in der Bonner Beethovenhalle hätten Petra Kelly vielleicht gefallen. Die großen gelben Blüten, dunkler in der Mitte, sahen fast aus wie Sonnenblumen. Sanft lächelten ihr Abbild und das von Gert Bastian überlebensgroß auf die rund 1.500 Menschen herab, die sich am Sonnabendmittag versammelten, um zu trauern – oder sich darum bemühten.
Die Angst vor einem unwürdigen öffentlichen Abschied saß den vielen HelferInnen der grünen Partei schon am Morgen im Nacken. Sie probten den Einsatz in der Vorhalle generalstabsmäßig. Niemanden zu kränken, zu düpieren, freundlich und aufmerksam zu sein, zu helfen und zu geleiten, ausländische Gäste fürsorglich zu empfangen – dieses gemeinsame Anliegen spannte sie ein in ein Korsett ungewohnt verhaltener Gemeinsamkeit.
„Ich habe es immer noch nicht begriffen...“
Die Trauergemeinde hatte ihre eigenen Farben. Viele alte Menschen waren gekommen. Sie brachten die unübersehbare Betroffenheit über den Tod einzelner mit, die den Jüngeren noch so fremd ist: die Trauer um Vergänglichkeit und darum, daß die eigenen Lebenstage schnell vergehen, daß so wenig Zeit bleibt.
Zu Hunderten kamen die Tibeter. In großen Gruppen zogen sie in den Saal. Die fellverbrämten Hüte, die grauen und braunen Kutten mit den farbigen Bändern, die gewebten, bunten Kleiderschürzen der Frauen, erklärte eine junge Frau, das seien ihre Feststagsgewänder, nur zu feierlichen Anlässen angelegt: „Wir tragen sie zu Hochzeitsfeiern und in Trauer.“
Die Totenreden waren allesamt verhalten. Immer wieder vergewisserten sich die eine wie der andere des für sie unerklärlichen wie ungeklärten Todes. Christa Nickels rauhe Holprigkeit stockt, ist niemandem Trost, auch nicht ihr selbst: „Ich verstehe das alles noch nicht!“ Sie klagt sich selbst an, hinter der hyperaktiven Fassade des symbiotischen Paares nicht wahrgenommen zu haben, daß sie „unendlich gebrochen und schwach waren“. Und sie wendet die Selbstanklage nach ihrem Naturell praktisch: „Nicht einmal ein Büro haben wir ihnen gegeben!“
Immer wieder wird, wie ungläubig, das Unübersehbare ausgesprochen: „Petra Kelly und Gert Bastian sind tot!“ Lukas Beckmann sagt es ebenso wie Joschka Fischer, dem im Balanceakt zwischen der realen Kontroverse zu Lebzeiten der Betrauerten und seiner Rührung und Versöhnungsbereitschaft nach deren Tod die Stimme fast erstickt. Auch er sagt: „Ich habe es immer noch nicht begriffen. Petra und Gert mit einer Kugel im Kopf...“. Auch er versucht, mit sich selbst zu rechten und ahnt „einen grundlegenden Fehler unserer Partei“, die es nicht geschafft habe, „die Unterschiede der einzelnen Menschen und ihrer Charaktere gemeinsam zur Geltung kommen zu lassen.“ Und er verabschiedet sich, als seien die Toten leibhaftig anwesend: „Petra und Gert, lebt wohl, ihr beiden!“
„Das Unverständliche mit Achtung annehmen“
Der ausgewiesene Experte für menschliche Verstrickungen, der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter, erteilt die erhoffte Absolution einer leichten Erklärung nicht. Er glaube nicht, daß Kelly und Bastian sich „aus Resignation“ umgebracht hätten, ohne „eine Hilfe zum Verstehen zu hinterlassen“. Sie seien, so hätten sie ihm in einem Brief im September geschrieben, zwar entsetzt über die „neue Welle von Gewalt und Rassismus“ in Deutschland gewesen, aber „sie steckten voller Pläne“. Sein fast schroffer und unvermittelter Ratschlag: „Also sollten wir das Unverständliche jetzt mit Achtung annehmen.“
Die Fülle dessen, was der Ex- General und die Weltpolitikerin gemeinsam versuchten, handelte Ludger Volmer ab: „Petra und Gert wollten nicht weniger als die ganze Welt verändern und das sofort.“ Und: „Sie haben es uns oft nicht leicht mit ihnen gemacht.“ Wäre Petra Kelly noch am Leben, bedenkt er posthum, wäre sie als künftige Europaabgeordnete unverzichtbar gewesen: „Eine bessere Botschafterin der grünen Sache in der Welt hätten wir nicht finden können.“
Das „hätte“ und „wäre“ spielt auch in den Gesprächen im Foyer eine Rolle. „Das Europaparlament wäre ihr“, sagt eine grüne Funktionärin, als ob die Tote noch lebte, „wie auf den Leib geschneidert“.
Die Kontroversen und Streitereien über den absoluten Anspruch der beiden, das Gute und Richtige in selbstvernichtendem Einsatz in der ganzen Welt und rund um die Uhr zu tun, klingen immer wieder an. Die vielen internationalen Grußadressen aus Indien, Australien, Japan, Lateinamerika, den USA, von den Tibetern und den Lakota-Indianern, Kurden und Iren, von der Kinderkrebs-Hilfe und den Frauenorganisationen aus aller Welt nehmen kaum ein Ende. Es sind viel zu viele, um sie alle in der drei Stunden währenden Feier zu verlesen. Die Reden von Claire Greenfelder von den US-amerikanischen Grünen und dem Indianerführer Milo Yellow Hair beschwören suggestiv Kellys und Bastians Charisma. Er verabschiedet sich bildhaft und kurz: „Shake your hands and a good way.“
Der Repräsentant des Dalai Lama, der Tibeter Kelsang Gyaltsen, erinnert im Chor der weltweiten Lobgesänge an die Überzeugung von Petra Kelly, immer „den ersten Schritt“ gegen Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Gewalt tun zu wollen und an ihren Glauben: „Veränderungen kommen automatisch, wenn wir den ersten Schritt beginnen.“ Und: „Es kann ihnen nicht vorgeworfen werden, daß an so vielen Orten die Menschenrechte mit den Füßen getreten werden.“
„Die Blätter scheinen schneller von den Bäumen zu fallen“
Der Bundesratspräsident Oskar Lafontaine und der SPD-Bundestagsageordnete Freimut Duve blickten nachdenklich vom Herbst in den Winter 1992. Lafontaine: „Der Herbst ist in diesem Jahr anders. Die Blätter scheinen schneller von den Bäumen zu fallen.“ Auch dies leitete eine erhoffte Gemeinsamkeit der Versammelten ein.
Der Kampf gegen Gewalt und Rassismus, gegen neuen Nationalsozialismus in Deutschland, möge, sagten viele RednerInnen, das gemeinsame Ziel in der Zukunft sein. Viel war auch davon die Rede, daß die „Welt kälter und ärmer geworden sei“ ohne Kelly und Bastian. Viele forderten das „Näherzusammenrücken“. Die Worte von der „Zartheit“ und „Gebrechlichkeit“, „Verletzlichkeit“ und „Sensibilität“ der Toten fielen dutzendweise bis hinauf zu den Kameraleuten auf der Empore. „Sensible“ Aufnahmen ohne direkten Zoom „auf die Gesichter von Weinenden“ waren in einigen Redaktionen beschlossen worden.
Diejenigen, die an einen Selbstmord nicht glauben wollten, blieben eine Minderheit, der jedoch offen niemand widersprach. Lew Kopelew erinnerte an die Frau, die er 1983 kennenlernte, „jung, schön, kenntnisreich und redegewaltig“, verbunden mit einem Mann, „dem die Seele aus den Augen sprach“ – „Ich glaube an keinen Selbstmord.“ Dies, so Kopelew, „widerspricht dem Sinn, dem Wesen ihres Lebens.“ Auch Bärbel Bohley rebellierte gegen das „Inruhelassen“ der Toten, die das so nicht gewollt hätten: „Dieser Tod paßt nicht zu ihnen, wie es nicht zu uns paßt, ihn ohne Kampf anzunehmen.“ Sie breitete das Transparent „Schwerter zu Pflugscharen“ auf dem Podium aus, das Kelly und Bastian zusammen mit anderen dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker am 31.Oktober 1983 überreicht hatten. Ihr Vorwurf an die West-Grünen war unüberhörbar. Ihr Mitstreiter Gerd Poppe wies dagegen als Bundestagsabgeordneter die Vorwürfe, die der Ex-Grüne und SPDler Otto Schily erhoben hatte, zurück: „Ich folge der Erklärung nicht, daß wir sie vereinsamen ließen.“
In allen ratlosen, versucht poetischen Reden, blitzte immer wieder persönlich Erinnertes auf über die besorgte Liebe von Kelly und Bastian zueinander, gemeinsame Erlebnisse, Kleinigkeiten, die als groß empfunden wurden: von mitgebrachter Schokolade, nicht vergessenen Zahnbürsten bis zu den so wichtigen Ersatzteilen für Fotokopierer und Druckmaschinen für die Dissidenten in der DDR und in Moskau. Diejenigen, die ihre eigene These von dem immer wieder als aufrecht, freundlich, zuverlässig und liebevoll geschilderten Ex-General Gert Bastian hatten, der dennoch egoistisch und militärisch knapp den Fangschuß in die Schläfe seiner Lebensgefährtin setzte, waren aus Protest gegen die doppelte Trauerfeier fern geblieben.
Zorn und Wut über die eigene Hilflosigkeit schwelten unter der Decke und fanden nur vereinzelt ihr Ventil in den fünf Kondolenzbüchern. Da war einem Mann nach Spontaneität zumute. Er fragte schriftlich, warum denn „kein Grüner in den Saal geschissen“ habe gegen die bigotte Feierlichkeit. Andere machten Gedichte, schrieben sich sich den Abschiedsschmerz von der Seele oder wünschten und baten nur einfach: „Frieden!“
Die Tibeter nahmen anders Abschied. Sie standen einzeln, still und versonnen vor den sechs Fotos im Foyer: Petra Kelly lachend vor einem Plakat mit dem Bundesadler beim Einzug in den Bundestag; Kelly im Plenarsaal neben Barzel und Kohl; zu Besuch bei den Lakota; die alte Bundestagsfraktion mit Schily und Fischer; Bastian als Friedensredner. Am Ausgang der Beethovenhalle machte sich Erleichterung Luft. „Es war“, sagte eine grüne Organisatorin, „doch eine würdige Veranstaltung“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen