: François Fejtö: „Ein entehrendes Bild“
■ Antworten auf die Fragen nach der Zukunft Europas und seiner Intelligenz
Was wird aus dem alten Mitteleuropa?
Es gibt in der Entwicklung der Länder Zentraleuropas ermutigende Tendenzen, alte Verbindungen wieder neu zu knüpfen: Das Dreieck des Visegrad, vielleicht noch mehr, aber das ehemalige Sechseck, das soeben als „Initiative zur zentraleuropäischen Zusammenarbeit“ wiederauferstanden ist, und das, um (Nord)-Italien und Österreich herum Ungarn, Kroatien, Slowenien, vielleicht Bosnien-Herzegowina, die Tschechoslowakei, Polen vereinigend, einen Schwerpunkt der Entwicklung und Anziehungskraft bilden könnte. Es ist interessant, festzustellen, daß sich – einer Hegelschen Bewegung von „These“, „Antithese“ und „Synthese“ folgend – die einst durch Reiche (das Österreichisch-Ungarische, Ottomanische, Spanische) integrierten, in den letzten zwei Jahrhunderten zersplitterten Räume dazu neigen, sich wieder zu vereinigen, dieses Mal allerdings freiwillig als Regionalmächte.
Aber zu beobachten sind auch entmutigende Elemente: autarkistische Tendenzen, autoritäre, nationalistische, deren Verstärkung die zentraleuropäischen Völker in Sackgassen führen könnten, in die Stagnation und den Untergang. Das um so mehr, als die unvermeidlichen Folgen der Rückverwandlung der Plan- in Marktwirtschaften auf der Ebene des alltäglichen Lebens und der Arbeitsplatzsicherheit ein Klima schaffen, das der Herausbildung einer liberalen Demokratie ungünstig ist. Drei Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989 ist die Zukunft noch sehr ungemischt, sind die Karten noch verdeckt.
Was wird aus dem nachkommunistischen Europa?
Es befindet sich auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht. Alles, so scheint mir, hängt von der Festigkeit der deutsch-französischen Achse ab: wenn sie hält, sich sogar verstärkt, wird Europa Auftrieb erhalten. Wenn sie bricht, könnte Deutschland, nachdem es die Ex-DDR „verdaut“ hat, der bevorzugte Partner der Vereinigten Staaten oder Japans werden und die Aufgabe übernehmen, den zentralen und östlichen Raum zu entwickeln. Untergruppen könnten sich herausbilden um die Schwerpunkte der Türkei, Spaniens und Französisch-Nordafrikas. Aber auch hier sind die Perspektiven verschwommen.
Was sollen die Intellektuellen tun?
Ich glaube, daß die Zeit abgelaufen ist, in der Intellektuelle wie Havel, Göncz und die Dissidenten durch ihre moralische Unterstützung einer auf Zustimmung beruhenden, friedlichen Transformation eine wichtige politische Rolle gespielt haben. Die Zeit der Professionellen ist gekommen. Die Intellektuellen werden in ihre traditionelle Rolle der kritischen Reflexion, des Widerstands gegen die Mißbräuche der Macht, die sich schon deutlich genug zeigen, zurückkehren. Dieses erneute Durchdenken der Welt, dieses Ankämpfen gegen die Wiederkehr der „alten Dämonen“ wird ihnen viel zu tun geben. Sie werden nicht arbeitslos sein, es darf vor allem nicht geschehen, daß sie sich entmutigen lassen und den Kampf einstellen. Was den Krieg in Ex-Jugoslawien angeht, glaube ich, daß Europa und die Vereinten Nationen am Beginn des Konflikts hätten intervenieren sollen: Es wäre deswegen nicht nötig gewesen, sich auf ein neues Vietnam einzulassen. Man hätte, zu Wasser und in der Luft, die Konzentration schwerer Waffen neutralisieren, die Bomardierungen verhindern, die Sädte vor der Zerstörung und die Menschen vor den Massakern und der Vertreibung bewahren müssen. Ich empfinde die Untätigkeit des Westens nicht nur als skandalös, sondern als dumm und gefährlich; der Generalseketär der Vereinten Nationen hat die ganze Welt verspottet, indem er den Sicherheitsrat beschuldigt hat, die jugoslawische Affäre zu wichtig zu nehmen. Wer den serbischen Nationalkommunisten erlaubt, in Kroatien, in Bosnien-Herzegowina vollendete Tatschen zu schaffen, der ermutigt die Extremisten in Belgrad, ihre noch viel abscheulichere und unerträglichere Absicht weiterzuverfolgen: nämlich die albanische Bevölkerung vom Kosovo und die muslimanische von Sandjak zu eliminieren, was sehr wohl zur weiteren Ausdehnung des Krieges führen könnte. Was die Entsendung von Truppen zur Friedenssicherung angeht, wo es nötig gewesen wäre, zuerst Frieden zu machen – so war vorauszusehen, daß sie dazu dienen würden, den serbischen Milizen zu gestatten, ihre Beute in den besetzten Territorien zu sichern und die Kroaten und Bosniaken daran zu hindern, ihre Städte und Dörfer wiederzugewinnen. Seit 1938 hat man in Europa kein derart feiges, heuchlerisches und schändliches Verhalten erlebt wie diese Politik, die die westlichen Länder praktiziert haben aus Gründen, die sie sich angesichts der jugoslawischen Krise nicht eingestehen wollten. Sie haben nichts vorausgesehen, nichts vorbereitet, nichts aufgehalten. Sie haben ein ziemlich entehrendes Bild der politischen Fähigkeiten und des moralischen Niveaus unserer Regierungen geliefert.
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