Mehr Demokratie wagen in Hamburg?

■ Hamburgs Landesparlamentariern steht eine Radikalreform der Bürgerschaft ins Haus/ Diätenskandal erzwingt Volksentscheid und gläsernes Parlament

Im bundesdeutschen Parlammentsbetrieb unterliegt die Einrichtung einer Enquete-Kommission allgemein anerkannten Spielregeln: Die Kommission produziert eine Unmenge Papier und legt nach geraumer Zeit einen vor Kompromissen triefenden Enquete-Bericht vor. Der wird im festen Wissen seiner Folgelosigkeit ausführlich debattiert und alsdann dem zuständigen Ausschuß überwiesen. Spätestens mit dem Ende der Legislaturperiode ist die Sache vom Tisch.

Doch in Hamburg ist diesmal alles ganz anders: Da hat eine Expertenkommission handfeste Konsequenzen aus einem sumpfigen Diätenskandal gezogen. Da ist ein hochverfilztes Parlament offensichtlich bereit, die Vorschläge der Experten umgehend zu verwirklichen. Da wird eine altehrwürdige Stadtstaatsverfassung, die paternalistischen Geist und Kaufmannskonsens verströmt, einer echten Verjüngungskur unterzogen.

„Demokratie now!“ heißt der Leitgedanke des dreihundertseitigen Revolutionspapiers. Die Rechte von BürgerInnen, Abgeordneten, Opposition und Frauen sollen grundlegend gestärkt, der Filz durch eine scharfe Unvereinbarkeitsregel von öffentlichem Dienst und Bürgerschaftsmandat an der Wurzel getroffen werden. Die ebenso fromme wie bequeme Lüge des „Feierabendparlaments“ wird durch konsequente Professionalisierung ausgelöscht. Werden tatsächlich die wichtigsten der insgesamt 100 Vorschläge der Kommission umgesetzt, dann ist die Hamburger Verfassung nicht mehr wiederzuerkennen.

Wolfgang Hoffman-Riem, Professor und Chef der Expertencombo, listet stolz die herausragenden Bonbons des Reformpaketes auf. In Sachen Bürgerrechte soll sich Hamburg dank Volkspetitionen, Volksbegehren und Volksentscheid nichts mehr vormachen lassen. 10.000 Unterschriften von Einwohnern – auch Ausländern– können eine Parlamentsdebatte inklusive Rederecht für eine Meinungsführerin erzwingen. Obendrein gibt es einen Ombudsbeauftragten. Alle Ausschußsitzungen sollen in Zukunft grundsätzlich öffentlich sein.

Hamburgs SPD-Chef Helmuth Frahm ist hell begeistert: „Woran die Politik seit Jahrzehnten herumpopelt, das hat eine unabhängige Expertenrunde in wenigen Monaten in hocheffizienter und hochdemokratischer Weise zustande gebracht.“ Für Frahm ein Politikmodell der neuen Art: Scheitert die Politik an Problemen, soll sie sich einfach von Experten und BürgerInnenkritik an die Hand nehmen lassen.

Ein bißchen Selbstzufriedenheit schwingt beim Erneuerer Frahm mit. Er zwang – gerade zum SPD- Chef gewählt – im Dezember 91 Hamburgs Bürgermeister Henning Voscherau und SPD-Fraktionschef Günter Elste, einen Gesetzentwurf zurückzuziehen, der als „Diätenskandal“ in die Hamburger Stadtgeschichte eingegangen ist. Damals hatte eine große Diäten-Koalition von CDU und SPD versucht, sich saftige Gehaltserhöhungen und Politrenten zu genehmigen. Als der Coup am 6. Dezember 1991 endgültig gescheitert war, versprach Frahm ein Reformkonzept noch für diese Legislaturperiode. Bis jetzt, gut 10 Monate nach diesem denkwürdigen Hamburger St. Nikolaus, wird der damals versprochene Weg tatsächlich konsequent eingehalten.

Als letzte Hürde bleiben die ParlamentarierInnen: Werden sie das Reformwerk tatsächlich mit verfassungsändernder Mehrheit verabschieden? Begeistert „ja“ sagten bislang lediglich die Grünen. Die SPD schmerzt die Unvereinbarkeit von Mandat und öffentlichem Dienst – schließlich macht die Riege der Staatsdiener im Parlament ein gutes Drittel aus. Auch wenn die Diäten künftig 6.800 DM brutto betragen (heute 2.000 DM netto) und eine Rente von zwei Prozent pro Abgeordnetenjahr gezahlt wird, bedeutet dies für die meisten, deren öffentliche Bezüge bisher voll weiterliefen, eine herbe wirtschaftliche Einbuße.

SPD und CDU, die beide für die verfassungsändernde Mehrheit gebraucht werden, haben große Probleme mit dem Reformwerk. Dieses ist jedoch derart konsequent und durchdacht angelegt, daß ein bloßes Wildern im Vorschlagsgarten der Experten kaum möglich ist. Die Hamburger Medien tun ein übriges: Sie beobachten mit Argusaugen, ob die Politiker ihrem Selbstreinigungsversprechen nachkommen. Frahm ist zuversichtlich: „Das Ding kommt durch.“ Hamburgs Parteien wollen sich noch vor Weihnachten endgültig festlegen. Florian Marten