: Pop Geist Blut
■ Camille Paglias „Die Masken der Sexualität“: Ein Kultbuch mit alten Thesen zum Geschlechterverhältnis
Ein Reporter des Rolling Stone sah das Buch bei Sophie B. Hawkins auf dem Nachttisch liegen, und Madonna hat es mit Sicherheit ebenfalls gelesen. „Die Masken der Sexualität“ von Camille Paglia beschwört die Parade sexueller Stereotypen als Vehikel des Angriffs der westlichen Kunst auf die Natur, und nicht wenige zeitgenössische RepräsentantInnen dieser Stereotypen feiern den 900-Seiten- Wälzer gerade in autoreferentiellem Zirkelschluß. Kultbücher waren seit jeher nicht nur Bibeln der Selbstvergewisserung, sondern auch Codes des Zeitalters. Paglias Werk wurde von den einen als wertkonservativer Antifeminismus beschimpft und von anderen als Rettung des Feminismus gepriesen; ernst nehmen sollte man es nicht allein wegen seines polarisierenden, sogar schulenbildenden Effekts.
Denn innovativ sind die Thesen nicht gerade. Paglia geht vom unveränderlich großen Unterschied zwischen Mann und Frau aus, den sie als Gegensatz von apollinischem und dionysischem Prinzp festschreibt. Natur gerinnt ihr zum kategorienbildenden Grenzbegriff in allen Fragen der Moral und Sittlichkeit, wobei die Sexualität das Naturhafte im Menschen darstellt: per se grausam, blutig und gewalttätig, muß sie von der Gesellschaft als System ererbter Formen strukturiert und organisiert werden. Die Gesellschaft wirkt somit sexuell immer restriktiv und das, Paglia zufolge, mit Recht, da in Sachen Erotik „alle Dinge in die Nacht zurücktauchen“. Den eher Rousseauschen Wurzeln des Feminismus hält Paglia „das Schulterzucken der Natur“ samt ihren Mythen entgegen. Paglias geistiger Vater ist nicht Rousseau, sondern de Sade, den sie für den größten ungelesenen westlichen Autor hält. Ihr Ausgangspunkt für einen geisteswissenschaftlichen Galopp durch zweitausend Jahre Kulturgeschichte ist ein biologistisch-determenistischer: die Grausamkeit des Menschen ist angeboren, denn Sexualität bedeutet Macht, und alle Macht ist ihrem Wesen nach aggressiv. Das Zurück zur Natur wäre ein naives Zurück zur Gewalt, und der Vergewaltiger ist nach Paglia somit nichts anderes als ein Produkt mangelnder sozialer Konditionierung.
Darüber könnte man sich erst einmal ärgern, auch über Sätze wie diesen: „Wir sind hierarchiebewußte Tiere.“ Wenn nicht weit mehr dahinter stecken würde als ein unterhaltsamer Verstoß gegen die Regeln der political correctness. Camille Paglia interpretiert die christlich-jüdische Kultur als dünne Eisdecke über einem gurgelnden heidnischen Moor, das einen – eben mit Hilfe der Sexualität zum Beispiel – jederzeit zu verschlingen droht. Sexualität als nicht zu bändigende, identitätsauflösende Kraft löst Urangst aus und soll deshalb in der „Liebe“ westlichen Stils rationalisiert werden, ohne daß aber das „kalte Licht des Intellekts“ die archaische Düsternis zurückdrängen könne. Die chthonischen Gewalten seien allenfalls benenn- und klassifizierbar; sexuelles Verhalten ist durch vergangene Realitäten nun mal rituell festgelegt.
Die apollinische (männliche) Konzentration auf Kreativität und Schönheit diene einzig dem Verdrängen des Chthonischen (Erdgebundenen, Weiblichen), der Grausamkeit der Biologie — eine folgenreiche, aber letztlich auf sich selbst verwiesene Anstrengung. Schon der moderne Alltag wiederholt das chthonische Drama, das keinen Höhepunkt kennt, sondern nur die endlose Wiederholung.
Das schlägt nicht nur allen gängigen Milieutheorien ins Gesicht. Paglia nimmt eine Einheit aus Frau und Natur an, die erst einmal alle Fragmentierungen auch des weiblichen Ichs inklusive seiner Sexualität überschludert. Die Frau, die nicht zufällig auch heute immer noch zur vornehmlichen Sachwalterin des Alltags gestempelt wird, reduziert sich auf eine „chthonische Maschine“ voller Magie und Dämonie, in ihrem selbstgenügsamen Sein stabil und zentriert, zugleich aber durch ihre zyklische Natur vollkommen an die Biologie ausgeliefert. Auch das Selbst der Frau müsse natürlich von der Gesellschaft gezügelt werden, um nicht animalisch der Natur zu verfallen. Der sakrale Raum des weiblichen Körpers ist in identitätsstiftender Absicht reinzuhalten von ekelhaften Sexualinstinkten, gar Promiskuität, die gleichbedeutend sei mit krankhaftem, ständigem Identitätsverlust.
Camille Paglia gibt sich alle Mühe, feministische Entmystifizierungstechniken aufzublättern, und schwelgt selbst mit düsterem Blick als Priesterin eines Blut-und-Boden-Feminismus in Mystifizierungen. Allenthalben ist von „schicksalhafter Natur“ die Rede; unermüdlich wird von Mysterien und Ritualen gesprochen. Bei Paglia verkommt in einem genialisch- kontrastiven Ansatz alle Kulturleistung zum Abwehrzauber der Projektion, die eine Verschiebung des Chthonischen in eine apollinische Ästhetik voraussetzt. Und Ästhetik beginnt, wo Sexualität aufhört. Pornographie steigt somit zum „unverfälschten heidnischen Bildkult“ auf.
Das alles klingt, als sei es als theoretisches Fundament für Marion Zimmer Bradley und Schmöker wie Die Nebel von Avalon entworfen worden, synthetisiert aber tatsächlich in einem weiteren schillernden Kraftakt intellektuellen Akademismus und Popkultur. Denn, so konstatiert Paglia: „Die Hochkultur hat ihre kulturelle Bedeutung verloren“, und die Massenkultur hole sich prinzipiell zurück, was die Hochkultur ausschließt. Und wieder führt sie als Beispiel Pornographie an. Paglias Sprache wurzelt konsequenterweise in den Gitarrensoli der Swinging Sixties, und ihre Ansichten über Sex entstammen einer akademischen, aber medienfreundlichen Ableitung aus Football-und- Rock'n'Roll-Ästhetik. Aggressiv hackt sie auf jenen moralischen Vegetarismus ein, den sie vorzugsweise der Geisteselite anlastet. Hochkultur vermag die aktuelle, vollkommen gesplittete Realität nicht mehr zu beschreiben; Popkultur ist dazu wenigstens partiell in der Lage, wenn auch durch ihre Kommerzialität korrumpiert.
Da eine Fusion beider Kulturen nicht ansteht, schlägt Paglia sich auf die Seite der Schönheit, die sie einzig im Populären verkörpert findet. Heutige Pop-Idole wie Madonna sind in ihren Personifizierungen von sexuellen Stereotypen chthonische Rein-Natur und gleichzeitig Kultur, doppelt codiert mit Stellvertretersendung. Sie können sich nahezu psychopathisch ausagieren und werden zu Gefangenen ihrer eigenen symbolischen Überhöhung. Eben wie Madonna, die, als Sexmaniac fungierend, in einem Status quo merkwürdig sterilen Erfolgs verharrt. „Jedes Totem lebt sein Tabu.“
Camille Paglia ist auf dem besten Wege, selbst eins zu werden. Die 45jährige, bisexuelle Professorin am Philadelphia College of Art bringt es, flankiert von schwarzen Bodyguards, als Performerin der Wissenschaft zur Perfektion. Ihre Selbstinszenierung als „lüsterne Nonne“ mit Medusenblick, die zweimal täglich blutige Steaks verschlingt, realisiert die Hochzeit von Intellekt und Show. Ist Paglia nun „Neo Post Anti“ oder „antifeministische Feministin“? In einer Welt frei flottierender Ideologeme ist ihr Rettungsangebot von klaren Gegensätzen und deren versuchter Synthese nicht nur trendy, sondern konservierend: also doch „Neo Post Anti“. Ohne Zweifel – Pop goes Tradition bei Paglia. Aber ihre wichtigste Botschaft lautet, daß nicht medial-demonstrierte Sexualität, sondern Brutalität das große Thema der Zeit ist. Anke Westphal
Camille Paglia: Die Masken der Sexualität. Aus dem Amerikanischen von Margit Bergner, Ulrich Enderwitz und Monika Noll; Byblos-Verlag, 855 Seiten, geb., 58 DM
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