: Der Tote zum Glück
■ Thomas Plaichinger liest heute abend aus seinem neuen Roman "Matrosen versenken", einem Hamburger Soziokrimi
liest heute abend aus seinem neuen Roman Matrosen versenken, einem Hamburger Soziokrimi
Sissi träumt von ihrem (seinem?) Mörder und rasiert sich im Bad (Beine, Achseln oder doch gar Gesicht?), Gerald nervt Lucie im Auto von Landhaus Scherrer bis in die City, Lotte ölt ihren Körper für den Abend und die Show, Egon schwärmt suchend über den Kiez - sowie von fremden Matrosen. In nur wenigen Seiten führt Thomas Plaichinger den Leser in seinem neuen Buch Matrosen versenken (Kellner Verlag) auf verschiedene Fährten; entführt ihn ins Alltagsleben seiner Protagonisten und - so ganz nebenbei - durch die Straßen Hamburgs, vornehmlich im Sex- und Hafenviertel St.Pauli.
Die Problemchen seiner Figuren erscheinen anfänglich noch völlig fremd, vielleicht beliebig, durch die bekannte Umgebung werden sie jedoch näher gerückt. Anders als in seinem ersten Hamburg-Krimi Mademoiselle im Hafen zeigt Plaichinger die Stadt diesmal nicht durch den Blick der Fremden, er nutzt sie als Kulisse und mehr: Beschreibungen, wie die der Kräne am Wasser, deren „Spitzen wie Tiere in den Nachthimmel ragten“ oder der Blick auf „wie Gebirge aufgebahrte Schiffsleiber auf den Schwimmdocks der anderen Seite“ bestimmen die Atmosphäre und rücken die Stadt mit ins Zentrum des Geschehens.
Die Story folgt keinem stringenten Verlauf. Plaichinger entwirft einen labyrinthischen Plot, der wie selbstverständlich auf Zufälle baut, die Protagonisten ahnungslos nebeneinander bewegt, zeitliche Verschiebungen und Überschneidungen eingeschlossen. Der Mord am Matrosen wird fast nebensächlich behandelt, der Tote wird gebraucht, um die Fäden der Figuren zu verspinnen, sie kurzzeitig aus ihrer großstädtischen Isolation zu befreien.
Entscheidend sind die Sehnsüchte seiner Figuren, die Wünsche nach erfüllten Beziehungen ohne Abhängigkeiten und nach Sexualität. In ihren Sehnsüchten neigen fast sämtliche Personen des Buches zu Selbstmitleid und leichter Depression, nicht umsonst legte Plaichinger die Geschichte in den suizidfreundlichen Winter. Er selbst nimmt ihre Gefühle nicht immer ernst, sondern behandelt sie oft angenehm ironisch, ja entwertet die Träume seiner Helden.
Die klassischen Merkmale des Krimis fehlen dem Roman. So kennt beispielsweise kein neunmalkluger, eiskalt kombinierender Detektiv jede Spur im Voraus. Plaichinger befindet sich damit zur Zeit in bester Gesellschaft, die Wissenschaft kennt gar schon eine Kategorie für diese Art des Romans: Den Soziokrimi.
Seine Vorliebe für Krimispannung bleibt dennoch spürbar: Spätestens beim Showdown wird niemand das Buch mehr zur Seite legen. Niels Grevsen
Heute abend, Literaturhaus, 20 Uhr
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