Deutschland auf dem Weg zur Massenhysterie

Der (vorläufige) Gipfel der Flüchtlingsphobie in Deutschland ist erreicht: Bundeskanzler Kohl hat den Staatsnotstand ausgerufen. [...] Einen angeblichen Staatsnotstand, der nun sogar einen offenen Verfassungsbruch (Änderung des Art.16 ohne die vorgeschriebene Zweidrittelmehrheit) rechtfertigen soll. [...]

Die Zahlen sind folgende: 1990 kamen 193.063 Flüchtlinge und 397.073 Aussiedler nach Deutschland, 1991 waren es 256.112 Flüchtlinge und 221.995 Aussiedler, und bis zum 31.10.1992 kamen 368.536 Flüchtlinge und 173.746 Aussiedler.

Wie kann ein vernünftig denkender Mensch annehmen, diese Flüchtlinge stellten eine Existenzgefährdung für Deutschland mit seinen inzwischen 80 Millionen Einwohnern dar? [...] Wo ist hier ein Staatsnotstand? Was am bundesrepublikanischen Staat gerät durch die Flüchtlinge in Gefahr?

Es handelt sich hier um eine Phobie, vergleichbar dem gegen Ende der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ verbreiteten Verfolgungswahn, wonach die knapp eine halbe Million Juden, die damals in Deutschland lebten, „das Unglück“ der (nichtjüdischen) Deutschen verkörperten. Die wahnhafte Idee, selbst in der Existenz bedroht zu sein, ist verknüpft mit einer Leugnung der tatätsächlichen existentiellen Bedrohung, in der viele Flüchtlinge schweben.

Die Sorge der Flüchtlinge um ihr Leben findet kein Interesse und kein Mitgefühl, statt dessen richtet sich das Interesse der Öffentlichkeit auf die „berechtigten Sorgen“ der deutschen Bevölkerung um Sauberkeit und Ordnung. Nach einer weit verbreiteten Mentalität sind es „die Deutschen“, die sich in Gefahr und Not befinden, die aufgrund des sogenannten „Flüchtlingsstromes“ der Hilfe und Rettung bedürfen. Verdient jemand, der sich durch einen schmutzigen Rasen belästigt fühlt, mehr Mitgefühl als jemand, der sich in Lebensgefahr befindet?

[...] Sind haßerfüllte Mordattacken auf wehrlose Menschen eine natürliche Reaktion von Arbeitslosen? Benötigt man eine spezielle Ausbildung in Völkerkunde, um zu lernen, daß man „Ausländer“ nicht ermorden darf? War der Massenmord an den europäischen Juden und „Zigeunern“ eine logische und verständliche Folge der „Arbeitslosigkeit“?

Was ist noch zu erwarten, wenn sich die wirtschaftliche Situation nicht bessert und gleichzeitig die öffentliche Meinung dabei bleibt, Mordattacken auf wehrlose Flüchtlinge und „Ausländer“ als normale Reaktion auf eigene wirtschaftliche Probleme – die mit den Flüchtlingen und „Ausländern“ nicht das Geringste zu tun haben – zu betrachten, und wenn weiterhin das öffentliche Mitgefühl den „bedrohten“ Deutschen gilt und die Opfer der brutalen Überfälle kein Gehör finden, weil ihnen niemand eine Stimme leiht? [...] Hermine Jöst, Rechtsanwältin, Berlin