Tories: Mindestlohn gehört ins Antiquariat

■ Britische Arbeitsministerin will Mindestlohn und Schwangerenschutz abschaffen

London (taz) – Wer arbeitet, will dafür auch angemessen bezahlt werden. Doch wo sollen die Unternehmen in Zeiten der Rezession das viele Geld hernehmen, das die ArbeiterInnen verlangen? So muß sich manche Firma schweren Herzens von vielen ihrer Beschäftigten trennen. In Großbritannien kommt verschärfend hinzu, daß seit Anfang des Jahrhunderts sogenannte „Lohnräte“ über die Einhaltung von Mindestlöhnen für die untersten Einkommensschichten wachen. Sie vertreten 2,5 Millionen ArbeitnehmerInnen, achtzig Prozent davon Frauen, die als Friseusen, Küchen- und Kneipenpersonal oder Verkäuferinnen arbeiten – ein Faß ohne Boden, da niemand weniger als zweieinhalb Pfund (rund sechs Mark) pro Stunde verdienen darf.

Doch: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Die britische Regierung hat jetzt die Mindestlöhne als eine Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit ausgemacht, von der inzwischen etwa drei Millionen Menschen betroffen sind. So beschloß sie denn am vergangenen Donnerstag, die Lohnräte abzuschaffen. Dadurch werden nicht nur neue Arbeitsplätze geschaffen, auch die Wettbewerbsfähigkeit der britischen Wirtschaft soll sich gleichzeitig erhöhen – behauptet jedenfalls die Tory-Arbeitsministerin Gillian Shephard. Ihr Argument: „Die Lohnräte, die um 1900 geschaffen worden sind, spielen in den neunziger Jahren keine Rolle mehr. Sie sind ein Anachronismus.“ Recht hat sie: in den Arbeitshäusern des 19. Jahrhunderts konnte allemal billiger produziert werden als heute.

Die britische Industrie reagierte auf Shephards Initiative mit Begeisterung. Lediglich die Gewerkschaften maulen. Norman Willis, Generalsekretär des Dachverbands TUC, kündigte sogar eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof an. Nicht einmal Margaret Thatcher habe sich an die Abschaffung der Lohnräte herangetraut, meinte er. Chris Pond, der Sprecher für Niedriglohngruppen, fügte hinzu: „Großbritannien wird zum Taiwan Europas, wo es nicht mehr länger auf Qualität, sondern auf niedrige Lohnkosten ankommt.“ Und Frank Dobson, der Arbeitsminister im Labour-Schattenkabinett, prophezeite, daß viele der Betroffenen Sozialhilfe beantragen müssen: „Dann müssen die Steuerzahler das Geld aufbringen, das die Tory-Arbeitgeber sparen werden.“

Das bestreitet Gillian Shephard jedoch. Sie glaubt, daß achtzig Prozent der Menschen, die von den Lohnräten vertreten werden, gar nicht auf das Geld angewiesen sind, weil sie mit Partnern zusammenlebten, die feste Anstellungen hätten. „Es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß die Abschaffung der Lohnräte diese Menschen in die Armut treiben wird“, so die Ministerin.

Das Gesetz, das am 16. November dem Unterhaus zur zweiten Lesung vorgelegt wird, soll im nächsten Herbst in Kraft treten. Großbritannien wird dann das einzige EG-Land ohne Mindestlöhne sein.

Darüber hinaus schränkt das neue Gesetz die Rechte der Gewerkschaften weiter ein und verwässert die EG-Direktive zum Kündigungsschutz schwangerer Frauen. Auch das sind schließlich Anachronismen im Großbritannien der Tories in den neunziger Jahren: wo es keine Jobs gibt, braucht man auch keine Gewerkschaften oder Kündigungsschutz für Schwangere. Ralf Sotscheck