Im Getümmel der 350.000 gestern in Berlin hat nicht nur die taz den Überblick verloren. Auch bei anderen Medien stand nur eins im Vordergrund: die Randale. Was wirklich bei der Abschlußkundgebung der Demonstration geschah und die Reaktionen

Legenden, Mythen und Lügen

Berlins Regierender als Wortschöpfer: „Demonstrations-Terroristen“ hätten es geschafft, das Bild Deutschlands im Ausland und in Berlin nachhaltig zu desavouieren. Statt einer Demonstration, mit der die Gemeinsamkeit der Demokraten für alle sichtbar unterstrichen worden wäre, nun Bilder von Krawall und Farbeiern auf den Bundespräsidenten. Und der Hessische Landesverband der Grünen stößt mit seiner Stellungnahme in das gleiche Horn: Die linksradikalen Gruppen hätten „gezeigt, daß es bei ihrer Aktion nicht um Flüchtlinge oder Menschenrechte, sondern um einen Kampf gegen die Demokratie und den Rechtsstaat geht. Diese Demokratie-Feinde nutzen nur die Flüchtlinge ... für sich aus.“ Eine ähnliche Stellungnahme gaben auch Die Falken ab. Konrad Weiß faxte aus Bonn gar, die „Linksradikalen haben ihr wahres Gesicht gezeigt. (...) Diese autonomen Faschisten sind nicht besser als ihre braunen Gesinnungsgenossen und feige Verbrecher wie diese.“

Tatsächlich haben es die „Autonomen“ mit ihrer Störaktion geschafft, daß nun nicht mehr über die Demonstration selbst geredet wird, sondern die unterschiedlichen politischen Interessen die Eierwürfe instrumentalisieren. Fürwahr ein „voller Erfolg“, wie Autonomen-Vertreter erklärten – siehe unten –, und nur mit einem minimalen Aufwand erzielt. Einzige Voraussetzung war, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein.

Im Lustgarten war wenig von den Aktionen mitzubekommen. Bevor die beiden Demonstrationszüge den Platz der Kundgebung im Lustgarten erreicht hatten, war bereits ein Teil des autonomen Bündnisses auf dem Platz präsent und hatte sich direkt an den Absperrungen zur Bühne niedergelassen. Zahlreiche Transparente, auf denen das politische Establishment als Heuchler denunziert wurde, prägten das Bild aus Sicht der Rednertribüne.

Im Prominentenbereich machten sich Irritationen breit, weil Kohl und einen Teil der Autonomen nur noch ein kleines Absperrgitter und eine dünne Polizeikette trennte. Wohl selten prallten so unterschiedliche Milieus so dicht aufeinander, sah diese Regierung diesem Teil der Regierten einmal so direkt ins Gesicht. Und dann kam die gegenseitige Bekundung heftigen Unwillens. Selbst wenn vereinzelt auch Steine geflogen sein sollten – kein Beobachter konnte die Geschosse genau ausmachen –, es ging um eine wütende, teilweiße auch haßerfüllte Bekundung des Unwillens gegen die politische Führung und nicht um einen gewaltsamen Angriff.

Als die Kundgebung begann, erhielten diejenigen, die sowieso nichts hören wollten, von diesen Politikern unerwartet technische Schützenhilfe. Die Lautsprecher fielen aus, Richard von Weizsäcker bewegte nur noch unhörbar die Lippen. Hinter der Bühne, rund um Helmut Kohl, wußte man gar nicht mehr, was vor sich ging, bereits 200 Meter vor der Bühne auch nicht mehr, und die Fernsehkameras fingen einen tonlosen Weizsäcker ein, der von Polizei mit Plexiglasschildern gegen Eierwürfe abgedeckt wurde. Das Chaos, die wechselseitige Sprechlosigkeit, war perfekt und wurde noch gesteigert, als die Polizei über die Absperrungen sprang, um die potentiellen Eierwerfer außer Wurfweite zu drängen.

Helmut Kohl hat gestern zu Protokoll gegeben, wie er sich in dem Moment gefühlt hat: „mit dem Pöbel der Straße“, unversehens konfrontiert, der Ausgeburt des „transportablen Demonstrationsgewerbes“. Der Fehler der Organisatoren, so Kohl, war es, die „Randalierer in die erste Reihe vor die Rednertribüne zu lassen“.

Hinter dieser emotionalen Konfrontation zwischen Autonomen und Establishment verschwand in den Fernsehbildern die übrige Demonstration. Fast eine halbe Million Menschen, die, überwiegend skeptisch, aber zum Zuhören bereit waren, gingen mit ihrem Anliegen unter.

Als die Rede Weizsäckers wieder zu verstehen war, wurde vor allem geklatscht, als der Bundespräsident versicherte, mit der Würde des Menschen sei nicht die Würde des Deutschen, sondern aller Menschen gemeint. Es gab zwar Gruppen, die in Parteiblöcken organisiert gekommen waren, aber ganz überwiegend hatten die Leute selbstfabrizierte Plakate in der Hand, waren nicht wegen, sondern trotz der Beteiligung des Bundeskanzlers zu der Demonstration gekommen, um für das Recht auf Asyl und gegen Rassismus auf die Straße zu gehen. Das schließt ein „Ja zu diesem Staat“, wie Bundeskanzler Kohl die Motive am Montag zusammenfaßte, nicht aus, war aber ganz sicher vor allem die Sorge darum, was aus diesem Staat werden könnte. Zum Teil hat Richard von Weizsäcker diese Sorge zum Ausdruck gebracht, hat stellvertretend für viele, die im Lustgarten versammelt waren, beklagt, welchen Einfluß Rechtsradikale auf das innenpolitische Klima der Republik genommen haben. Für Hans-Jochen Vogel, SPD, war wichtig, daß „so viele Menschen gegen Fremdenhaß auf die Straße gegangen sind“. Daran ändert auch das Pfeifkonzert einiger Autonomer nichts. Jürgen Gottschlich