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Wie kann man hier leben?

■ Begegnung mit Lucille Eichengreen in Hamburg

Mit wenigen Sätzen macht Lucille Eichengreen deutlich, daß sie diese Stadt und dieses Land vollkommen negiert – nicht schroff, nicht überraschend, aber eindeutig. „Ich habe keinen Grund, nach Deutschland zu kommen. Ich kenne niemanden, habe keine Verwandten, keine Freunde. Es gibt nichts, was mich nach Deutschland zieht, nichts, was mich hier interessiert.“

Der Grund, warum sie dennoch, gemeinsam mit ihrem Mann Dan die Reise von den USA nach Polen und schließlich nach Hamburg und Berlin unternommen hat, ist das Erscheinen ihres autobiographischen Buches „Von Asche zum Leben“. Ein Leben, dessen frühe Stationen die grausame Chronologie des Holocaust buchstabieren: Ghetto Lodz, Auschwitz, Arbeitslager Dessauer Ufer, Konzentrationslager Neuengamme, Bergen- Belsen.

In Hamburg wurde Lucille Eichengreen 1925 geboren, als Cecilie Landau, Tochter jüdischer Eltern, die vier Jahre zuvor von Polen nach Deutschland gezogen waren. In ihre Geburtsstadt kehre sie besonders widerwillig zurück, sagt sie. „In Hamburg ist mir wirklich nie etwas Gutes passiert.“ Am 10. November 1938 sei sie nahe an einer der zerstörten Synagogen vorbeigegangen, noch ohne zu wissen, was in der Nacht zuvor geschehen sei. Damals, so schreibt sie in ihrem Buch, „konnte ich mich nicht mal mehr an ein Leben ohne Angst erinnern“. Sehr früh muß Cecilie Landau die verschiedenen Gesichter der Verachtung erkennen: Als sie in der Israelitischen Töchterschule ihre Staatsangehörigkeit mit „polnisch“ angibt, wird sie selbst von Lehrern und Mitschülerinnen verhöhnt. Auch wenn Lucille Eichengreen fünf Jahrzehnte später den Schmerz des Kindes in Worte zu fassen versucht, bleibt ihre Sprache knapp und nüchtern. „Das ist mein Stil“, sagt sie. „Ich habe nicht gerne, wenn etwas so voller Blumen ist. Ich habe es gerne faktuell und sehr klar. Ich mag keine Niedlichkeiten.“

Am ersten September 1939, wenige Stunden nach der Radiomeldung vom Einmarsch der Deutschen in Polen, wird ihr Vater Benno Landau zum zweiten Mal von der Gestapo abgeholt. Diesmal kehrt er nicht zurück. Im Februar 1941, wenige Wochen nach Cecilies 16. Geburtstag, stehen wieder zwei Gestapo-Männer in der Wohnungstür. Die hölzerne, mit einem Gummiband verschlossene Zigarrenschachtel, die sie auf den Küchentisch werfen, enthält Asche. „Benjamin Landau ist tot. Er starb am 31. Januar in Dachau“, lautet der Kommentar. Cecilies Mutter verhungert im Getto Lodz. Auch ihre kleine Schwester Karin sieht sie dort zum letzten Mal, bevor das Mädchen, auf das aufzupassen sie der Mutter versprochen hatte, auf einem Lastwagen weggebracht wird. Sie empfinde eine Art „moralischer Schuld“ gegenüber ihrer Schwester, sagt Lucille Eichengreen. „Warum lebe ich und meine Familie nicht? Wir haben wenig getan, um am Leben zu bleiben. Die anderen haben weniger getan, um zu sterben.“

In Auschwitz wird die 19jährige gemeinsam mit anderen weiblichen Mithäftlingen von Josef Mengele für den Transport in ein Hamburger „Arbeitslager“ bestimmt. Zu den gespenstischsten, aber für Cecilie Landau vielleicht auch charakteristischen Episoden gehört die Schilderung, wie sie dort unter Lebensgefahr einen Fetzen Stoff unter den Lumpen verbirgt, um ihren kahlgeschorenen Kopf zu bedecken. „Aber nicht wegen des kalten Windes oder des peitschenden Regens. Es war vor allen Dingen Eitelkeit.“ Nach allen anderen Verlusten hat Lucille Eichengreen wohl den der eigenen Würde am wenigsten vergessen.

Sie hat absolut kein Verständnis für Juden, die nach 1945 in Deutschland geblieben sind. In Hamburg habe sie jetzt gerade einen langjährigen Freund ihres Mannes getroffen, der wieder nach Deutschland zurückgekehrt sei, sagt sie. „Ich habe ihm gesagt, daß das lächerlich ist. Wie kann man hier leben. Wie kann man in einem Feindland leben?“ Mechthild Bausch

Lucille Eichengreen: „Von Asche zum Leben“, Dölling & Galitz Verlag, Hamburg, 34 Mark

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