■ Zur ethischen Dimension des Erlanger Experiments
: Dürfen Leichen Kinder kriegen?

Hans-Bernhard Wuermeling, Professor für Rechtsmedizin an der Universität Erlangen, Mitglied der dortigen Ethikkommission und seit 1984 in der „Juristenvereinigung Lebensschutz“ (JVL), hat die Erlanger Entscheidung mitzuverantworten, die Körperfunktionen einer schwangeren Hirntoten aufrechtzuerhalten, um den Fötus heranwachsen zu lassen. In der JVL haben sich etwa 800 erklärte AbtreibungsgegnerInnen zusammengeschlossen, die Ungeborene vor „einem Todestunnel von drei Monaten“ (JVL- Papier) schützen wollen. Auch Wuermeling bekennt sich dazu, Abtreibungsgegner zu sein, und sieht Ungeborene vom Moment der Befruchtung als eigenständige Wesen an, „die nicht getötet werden dürfen“.

taz: Im Fall der hirntoten Marion P. wurden Sie zur Beratung herangezogen, als es darum ging, ob die Beatmung fortgeführt werden soll oder nicht. Wieso ist es Ihrer Meinung nach vertretbar, einen Embryo in einer toten Frau heranwachsen zu lassen?

Hans-Bernhard Wuermeling: Fragen wir zunächst einmal nach dem Kind selbst. Viele sagen, es belaste das Kind später, wenn es aus einer Leiche geboren wurde. Das ist sicher schlimm für das Kind, doch das Leben erscheint mir wichtiger. Daher halte ich es nicht für vertretbar, wegen dieses Geburtsfehlers – wenn Sie das so nennen wollen – das Kind sterben zu lassen.

Zweitens wird gesagt, das Kind entbehre Einflüsse von seiten der Mutter, dies mache es zum seelischen Krüppel, und daher sollte man es sterben lassen. Auch dieser Argumentation kann ich nicht folgen. Sicher entbehrt das Kind etwas, aber es entbehrt weniger, als es im letzten Teil der Schwangerschaft in einem Brutkasten entbehren würde. Es hört den Herzschlag der Mutter, die Atemgeräusche, die Darmgeräusche, es ist warm, es braucht nicht zu atmen.

Und inwiefern ist es hinsichtlich der hirntoten Frau vertretbar?

Das ist natürlich etwas völlig Ungewöhnliches, das sicher an der Grenze des Vertretbaren liegt. Wir haben uns daran gewöhnt, den toten Körper für Zwecke der Wissenschaft zu benutzen, zum Beispiel in der Anatomie. Wir haben uns daran gewöhnt, dem toten Körper Organe zur Transplantation zu entnehmen, um anderen zu helfen. Aber dabei handelt es sich immer um relativ kurzfristige Angelegenheiten. Hier ist dagegen eine extreme Beatmung und künstliche Konservierung des Leichnams erforderlich. Und dagegen sind erhebliche Einwände aus Gründen der Pietät zu machen. Die Ehrfurcht vor dem toten Körper ist nun aber keine absolute ethische Forderung, wie etwa das Lebensrecht. Pietätsverletzungen kann man für solche Zwecke begehen. Organentnahmen sind ja auch Pietätsverletzungen.

Außerdem muß man immer fragen, welcher Wert steht dem gegenüber. Wenn man dann zu dem Ergebnis kommt, daß das Leben des Kindes – und das ist ein ganzes Menschenleben – auf dem Spiel steht, also der Wert ist, der gegen die Pietätsverletzung abgewägt werden muß, dann scheint mir die Verletzung der Ehrfurcht vor dem toten Körper aufgewogen zu werden durch den Wert des noch ungeborenen Lebens.

Wenn Sie die Tote in der Intensivstation sehen würden, würden Sie denken, sie schläft. Das ist kein Anblick, der den Eindruck der Pietätlosigkeit erweckt. Auch der Umgang der Krankenschwestern mit der Toten ist der gleiche wie mit einer Lebenden. Das Pflegepersonal hat zwar wegen des Umgangs mit einer Leiche psychologische Schwierigkeiten gehabt. Aber die werden damit zurechtkommen, wenn sie daran denken, was da drin heranwächst.

Warum hat sich die Ethikkommission der Erlanger Uniklinik nicht mit diesem Fall befaßt?

Weil es sich nicht um ein medizinisches Experiment handelt. Die Ethikkommission ist nur zur ethischen Beratung von Ärzten berufen, die medizinische Versuche am oder mit dem Menschen vornehmen, um Informationen zu gewinnen.

Informationen gewinnen Sie im Erlanger Fall doch auch?

Aber das ist nicht der Zweck der Angelegenheit. Das ganze hat damit begonnen, daß die noch lebend Eingelieferte nach wenigen Tagen den Hirntod gestorben ist. Das Hirn hat vollständig versagt, da ist nichts mehr, was es noch tut. Danach stand man vor der Frage, schalten wir jetzt ab, wie das normalerweise der Fall ist, oder schalten wir nicht ab. Und das Nichtabschalten ergab sich eben lediglich, weil sich da ein vier Monate alter Embryo bewegte und normalen Herzschlag hatte.

Wir haben vor einigen Jahren einen ähnlichen Fall gehabt. Damals habe ich gesagt: ,Wenn ihr die Mittel und Möglichkeiten nicht habt, dann braucht ihr euch auch kein schlechtes Gewissen zu machen, wenn ihr abschaltet.‘

Sind Sie für ein Lebensrecht um jeden Preis?

Nein, das geht gar nicht. Lebensrecht hat zwei Aspekte. Zum einen den defensiven Aspekt: Niemand darf mich töten. Da gibt es sogenannte Ausnahmen wie Krieg, Notwehr und Todesstrafe, die sind ethisch alle umstritten. Aber das Tötungsverbot ist ein absolutes.

Zweitens bedeutet Lebensrecht, daß ich einen Anspruch darauf habe, an den Lebensmöglichkeiten und Lebensmitteln der anderen teilzunehmen. Wir sind ein sozialer Rechtsstaat, das heißt, einer steht für den anderen ein. Doch die Möglichkeiten, für jemanden zu sorgen, sind nicht unbegrenzt. Infolgedessen muß man nach der Verhältnismäßigkeit der aufgewendeten Mittel – und das sind nicht nur wirtschaftliche, sondern auch technische, personelle und psychologische Mittel – und nach dem Erfolg, der in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen erzielt werden kann, fragen.

Sollte die Erlanger Schwangerschaft also abgebrochen werden, wenn sich herausstellt, daß das Kind behindert geboren werden könnte?

Die Relation zwischen aufgewendeten Mitteln und erzielbarem Erfolg könnte sich dann massiv verändern. Wenn Schäden aufträten, ist meines Erachtens auch ein Abbruch der ganzen Maßnahme vertretbar. Dies wäre dann keine Tötung, sondern die Beendigung einer Maßnahme, die man gar nicht begonnen hätte, hätte man gewußt, wie es weitergeht.

In der Universitätsklinik Erlangen kam vor etwa zehn Jahren das erste deutsche Retortenbaby zur Welt. Reiht sich der jetzige Fall in die Forschung zur In-vitro- Fertilisation, also zur Befruchtung im Reagenzglas, ein?

Die Zielrichtung, die hier vorliegt, ist eine völlig andere. Es gibt natürlich viele, die sagen: Aha, die wollen die Schwangerschaft außerhalb des Mutterleibes möglich machen. Doch die Ärzte, die jetzt daran arbeiten, haben nicht das geringste in dieser Richtung vor. Es wird nicht einmal Begleitforschung betrieben. Das Ganze steht nur unter dem Zeichen, das Kind durchzubringen.

Ich kann mir kaum vorstellen, daß derzeitige Untersuchungen später nicht ausgewertet werden.

Der Fall wird hinterher sicher veröffentlicht, wie die vier Fälle in den USA und der eine in Finnland veröffentlicht worden sind.

Wie stehen Sie zur Forschung mit Embryonen?

Die halte ich für nicht zulässig. Was würden Sie tun, wenn Ihre Frau als Schwangere bei einem Unfall ums Leben käme?

Das weiß ich nicht. Ich wäre so bestürzt, daß ich gar nicht wüßte, was ich machen sollte. Möglicherweise wäre ich später froh, wenn jemand die Dinge vernünftig in die Hand genommen hätte. Die Frage ist so ungewöhnlich, kein Mensch hat sich mit der Frage vorher befaßt. Die Entscheidung, die hier gefällt worden ist, ist ja auch in keiner Weise vorbereitet gewesen.

Sie haben sich schon 1987 in der Zeitschrift „Ethik der Wissenschaft“ mit der Austragung einer Schwangerschaft durch eine hirntote Frau beschäftigt. Damals schrieben Sie: „Die Leiche der Mutter wird dazu – hart ausgedrückt – vital konserviert.“ So überraschend und unvorbereitet kann es Sie nicht getroffen haben.

Nein, mich nicht, das ist richtig. Aber für die behandelnden Kollegen kam es völlig überraschend.

Ich halte heute die These, daß der Hirntod der Tod des Menschen ist, für gerechtfertigt. Der Mensch, der den totalen Hirntod erlitten hat, ist tot.

Herr Hackethal hat nun Strafanzeige gestellt und behauptet, bei der Patientin sei nur die Großhirnrinde abgestorben. Bei einer Patientin, bei der nur die Großhirnrinde abgestorben ist, hätte ich auch die allergrößten Bedenken. Ich würde es eher ablehnen, in so einem Fall die Beatmung der Mutter fortzusetzen, nur um das Kind zur Welt zu bringen, und dafür in Kauf zu nehmen, daß eine verkrüppelte Mutter nachher möglicherweise pflegebedürftig überlebt. Die Güterabwägung würde dann eher anders ausgehen.

Strafrechtlich ist übrigens zu sagen, daß weder der Abbruch der Beatmung noch ihre Fortsetzung irgendeinen Straftatbestand darstellen.

Das Ganze spielt sich also völlig im rechtsfreien Raum ab?

Noch. Wenn die Politiker so weiterschreien, dann werden sie bald Gesetze machen, und von denen ist zu erwarten, daß sie schlecht sind. Interview: Karin Flothmann