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Späte Selbsterkenntnis

■ Alkoholiker brauchen Jahre, bis sie sich durchschauen / Selbsthilfegruppen als niedrigschwelliges Hilfsangebot gegen die quälende Abhängigkeit

als niedrigschwelliges Hilfsangebot gegen die quälende Abhängigkeit

Heroin ist in aller Munde — sprichwörtlich. Alkohol ist auch in aller Munde — nur wird öffentlich kaum darüber gesprochen. Zumindest nicht über die erschreckenden Fakten, die im Zusammenhang mit dieser legalen Rauschdroge stehen: Fast drei Millionen Menschen gelten in Deutschland als alkoholabhängig, 40000 sterben pro Jahr an den Folgen des Alkoholmißbrauchs.

Viele — und besonders solche, deren Wissen von keinerlei Problemkenntnis getrübt ist — fühlen sich berufen, Lösungsvorschläge zum Junkie-Elend zu machen. Heroinabhängigkeit im düsteren Raum der Illegalität ist für Politiker und Kirchenleute schön weit weg, darüber läßt sich trefflich schwätzen. Die klassische Einstiegsdroge aber, der Alkohol, ist manchem verflucht nahe. Wer je das Vergnügen hatte, eine Bürgerschaftssitzung aus nächster Nähe zu beobachten (und dabei nicht selbst besoffen war), weiß, daß im Plenarsaal mehr Fahnen flattern als auf dem Rathausmarkt.

Ist nun jede Fahne ein Indiz für Alkoholabhängigkeit? Sicher nicht. Aber wer vom Stoff auch dort nicht lassen kann, wo er ganz und gar fehl am Platze ist, sollte sich schon fragen: Bin ich Alkoholiker?

Von Alkoholismus muß man sprechen, wenn ein Mensch durch häufiges Trinken in seiner Lebensführung erheblich beeinträchtigt ist. Deutliche Indizien für Alkoholabhängigkeit sind Kontrollverlust und die Unfähigkeit zur Abstinenz. Wer nach den ersten Gläsern zwanghaft weitertrinken muß, hat einen Kontrollverlust erlitten. Wenn beim Verzicht auf Alkohol körperliche Beschwerden und seelische Verstimmungen auftreten, diese Erscheinungen aber bei neuerlicher Stoffzufuhr verschwinden, liegt Abhängigkeit vor.

Die meisten Betroffenen (und ihre Umwelt) durchleiden solche Abhängigkeit über viele Jahre, bevor sie etwas unternehmen. Junge Leute sind in Alkohol-Therapieeinrichtungen und Selbsthilfegruppen seltene Gäste. Offenbar muß der Leidensdruck erst höllisch wirken, muß ein individueller Tiefpunkt erreicht sein, bevor man sich eingesteht: „Ich bin Alkoholiker!“

Der individuelle Tiefpunkt kann bei der einen darin bestehen, daß der Verlust des Arbeitsplatzes droht, bei dem anderen, daß der Freundeskreis sich verabschiedet. Alkoholikerkarrieren müssen nicht automatisch ins Pennerdasein am Hauptbahnhof führen — doch gefeit davor ist kein einziger Säufer. Und auch nicht vor den pathologischen Folgeerscheinungen des Suchtmittelmißbrauchs: Gedächtnislücken, Hirnschäden (Korsakow- Syndrom), Krampfanfälle, Herz- und Kreislaufschwäche, Leberschäden bis zur tödlichen Zirrhose.

Durch höchstrichterlichen Entscheid gilt Alkoholabhängigkeit in Deutschland seit 1968 als Krankheit. Rentenversicherungsträger und Krankenkassen tragen die Kosten für klinische Entgiftungsmaßnahmen und Therapien. Aber Therapien sind keine Wunderwaffen gegen die Sucht. Nachsorge muß sein. Die wird weitgehend von Selbsthilfeorganisationen geleistet. Deren Gruppen lassen sich jedoch nicht auf den Nachsorgeaspekt reduzieren. Sie sind neben den Beratungsstellen ein niedrigschwelliges Angebot zur Auseinandersetzung mit der Sucht.

Viele Trinker schafften den Weg aus der Abhängigkeit allein durch regelmäßigen Besuch ihrer Gruppe. Die Entgiftung allerdings ist keine Selbsthilfe-Angelegenheit. Sie sollte immer unter ärztlicher Aufsicht stattfinden. Ein abrupter Alkoholentzug kann lebensgefährlich werden.

Für Alkoholabhängige bestehen in Hamburg sechs Selbsthilfe- Netze: der „Guttempler-Orden“ mit 50 Gesprächsgruppen ( 402736), das evangelische „Blaue Kreuz“ mit Begegnungsgruppen in fast allen Stadtteilen ( 8003229 oder 2200717), die „Evangelische Landesarbeitsgemeinschaft für Suchtkrankenhilfe“ (ELAS) mit 85 Selbsthilfegruppen ( 201442), der katholische „Kreuzbund“ mit Gruppen in diversen Vierteln ( 463832), die „Landesarbeitsgemeinschaft der Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe“ mit 21 Freun-

1deskreisen ( 330344) und die „Anonymen Alkoholiker“ ( 2713353/54).

Alle Gruppen, außer denen der „Anonymen Alkoholiker“ (AA), sind auch offen für Angehörige und Partner der User. Schließlich leiden die nicht weniger als die Alkoholiker selbst. Co-Alkoholismus wird in der Suchtkrankenhilfe inzwischen als eigenständige Krankheit betrachtet. Walther H. Lechler, der Leiter einer Therapieklinik,

1schreibt: „Co-Alkoholiker (...) und Alkoholiker entwickeln zusammen ein sozio-pathologisches Öko-System, brauchen sich gegenseitig, miß-brauchen sich gegenseitig, leiden aneinander und zerstören sich gegenseitig.“

Die „Anonymen Alkoholiker“ bleiben gerade wegen dieser Erkenntnis stur unter sich. Ihre Idee: Alkoholiker leiden am Suff, Co-Alkoholiker am Saufenden. Sie können sich gegenseitig nicht helfen.

1Deshalb existieren neben den AA- Meetings ganze Ketten von Angehörigen-Gruppen (alle Kontakte über AA). „Al-Anon“ für erwachsene und „alateen“ für jugendliche Angehörige. Neuerdings treffen sich auch die erwachsen gewordenen Kinder von Alkoholikern in speziellen Meetings. Denn wer als Kind mit einem alkoholkranken Elternteil aufwachsen mußte, kann psychisch jahrzehntelang „gut“ davon haben. Jürgen Oetting

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