: Guerilla mit der Seele eines Bürokraten
Die politische Persönlichkeit des Führers von Sendero Luminoso, Abimael Guzmán ■ Von Carlos Iván Degregori
Seit 1980 führt die maoistische Guerilla des „Sendero Luminoso“ (Leuchtender Pfad) Krieg gegen den peruanischen Staat. Mit ungeheurer Brutalität und einer offenen Mordpolitik ist Sendero gerade auch gegen „reformistische“ Linke und Mitarbeiter von Basisorganisationen vorgegangen. Am 12. September nun wurde der legendäre Sendero-Führer Abimael Guzmán – für seine Anhänger: „Presidente Gonzalo“ – verhaftet, am 7. Oktober wurde er von einem Militärgericht zu lebenslanger Haft verurteilt worden.
Wenn, wie Shakespeare sagte, der Mensch aus dem Holz seiner Träume geschnitzt ist, dann haben wir es bei Abimael Guzmán mit dem Produkt eines maßlosen Alptraums zu tun. Im Folgenden soll betrachtet werden, wie die politische Persönlichkeit des Verhafteten von Beginn an die Geschichte Sendero Luminosos bestimmt und in den letzten Jahren ganz Peru geprägt hat.
Das Projekt Senderos markiert einen radikalen Bruch mit dem vorangehenden Zyklus des bewaffneten Kampfes in Lateinamerika, der mit der kubanischen Revolution begonnen hatte und – grob vereinfacht – mit der Wahlniederlage des Sandinismus in Nicaragua und der Verhandlungslösung in El Salvador zu Ende gegangen ist. (Womit ich diesen Zyklus nicht idealisieren will; ich teile die „Kritik der Waffen“, die zahlreiche Autoren formuliert haben.) Zunächst einmal geht es um einen Bruch mit jeder Form des Romantizismus. Gegen das Bild des heldenhaften Guerillakämpfers im Stile Che Guevaras erhebt sich bei Sendero das des revolutionären Bürokraten. Die klassische Guerilla geringschätzte die Rolle der bürokratischen Organisation. Abimael Guzmán hingegen war fähig, eine straffe Organisation aufzubauen und sie in eine – so seine eigenen Worte – „Kriegsmaschine“ umzuwandeln, eine kalte Planstelle für massenhaften Mord. „Der Triumph der Revolution wird eine Million Tote kosten“, bekräftigte Guzmán erneut, als er nach seiner Verhaftung am 24. September vor den peruanischen Fernsehkameras redete.
Dieser Charakter des Bürokraten ist es, der seine Verhaftung erlaubt, ohne daß ein Schuß dabei gefallen wäre, mit penibel geführten Parteiregistern und der, wie berichtet wurde, lakonischen Feststellung: Me tocó perder (Diesmal bin ich der Verlierer). In krassem Gegensatz dazu steht Che Guevara, der nach erbittertem Kampf festgenommen und dann ermordet wird.
Die Protagonisten der klassischen lateinamerikanischen Guerilla waren vor allem mit Schriftstellern, Künstlern und Bohèmes verbunden, Teilen einer Gegenkultur, die in den großen Städten des peripheren Kapitalismus entstanden war. Das Projekt Senderos hingegen assoziiert sich mit Advokaten, Lehrern und Priestern, jenen Gruppen, die jahrhundertelang der bürokratische Mörtel des traditionellen Machtsystems waren und die eher den vorkapitalistischen Städten sowie den mittleren und kleinen Dörfern entstammen, an denen die kapitalistische Entwicklung vorbeigegangen ist.
Die Guerilleros des früheren Zyklus waren die „Söhne und Töchter des Fortschritts“. Sie waren die rebellischen Kinder eines expandierenden Kontinents, in einer Zeit, als die Kapitalismusmodernisierer, die Dependenztheoretiker und die orthodoxen Marxisten den gleichen unbegrenzten Glauben an den Fortschritt teilten. Ganz im Gegensatz dazu erobert Sendero Luminoso seine Brückenköpfe in der Gesellschaft während der 80er Jahre, dem sogenannten „verlorenen Jahrzehnt“ Lateinamerikas. Unter den „Söhnen und Töchtern der Krise“ kann Senderos alternative Attraktivität haben: ein Kriegskommunismus mit totalem Kollektivismus, mit einer „Nivellierung nach unten“ und der Möglichkeit, sich in eine martialische Ordnung zu integrieren. Eine Ordnung, die die Wut der Hoffnungslosen und Ausgeschlossenen kanalisiert, indem sie für ein Gesellschaftsmodell kämpft, in dem „alles, Ökonomie, Politik, Kultur, aus der Mündung der Gewehre geboren“ wird.
Es gibt noch mehr Gegensätze. Dort, wo sich mit den Führern des vorangehenden Zyklus umherschweifende Guerillas und offene Räume assoziieren, ist der Weg Guzmáns geprägt von Seßhaftigkeit und Klaustrophobie. In den 70er Jahren hielt er kein einziges Mal eine Rede in einem öffentlichen Raum. Er bewegte sich in der Zelle seiner Organisation, dem Studienkreis, der Aula und dem Hörsaal. Als er in den 80er Jahren in den Untergrund geht, bewegt er sich im Kofferraum von Automobilen, von Schlupfloch zu Schlupfloch, von Zimmer zu Zimmer, von Schreibtisch zu Schreibtisch, unermüdlich lesend und schreibend. Denn für Guzmán steht die Theorie an erster Stelle; mehr noch als ein politisch-militärisches Projekt ist seines ein pädagogisches und ideologisches.
Der Kontrast spiegelt sich noch in den Körpern: Guzmáns nackter Oberkörper vor den Fernsehkameras, der Körper eines überwiegend im Sitzen lebenden Mannes; in krassem Gegensatz dazu die Fotografien der Leiche des Che nach seinem Tod in Nancahuaz. Doch am Ende zählen nicht die Körper. Auch nicht die Gefühle. Deshalb konnte Laura Zambrano, die „Camarada Meche“ – eine der Sendero-Führerinnen, die zusammen mit Guzmán verhaftet wurden – vor einiger Zeit erklären: „Die Liebe hat Klassencharakter, und sie steht im Dienste des Volkskriegs.“
Guzmáns Projekt, so blutig dessen Folgen auch sein mögen, ist für ihn vor allem ein intellektuelles. Es versteht sich als ein „wissenschaftliches“, ein „doktorales“. Noch nie in der revolutionären Tradition hat eine Bewegung mit solcher Penetranz auf ihrem Führer als einem „Doctor“, einem Gelehrten, bestanden – vielleicht weil es nie zuvor eine Guerilla mit Advokaten- und Bürokratenseele gegeben hat. Bezeichnend sind die Plakate Senderos, bei denen vor einem Hintergrund von Fahnen und Gewehren groß ein Mann im dreiteiligen Anzug steht, mit Brille und einem Buch unter dem Arm. Und in diesen Tagen sticht die Beharrlichkeit ins Auge, mit der Guzmáns Anwalt darauf dringt, daß man den Verhafteten als „Doctor Abimael Guzmán“ anredet und ihn als Intellektuellen anerkennt. Diese Beharrlichkeit hat zum einen mit dem Kampf mestizischer Intellektueller aus der Provinz zu tun, in einem zentralistischen und rassistischen Land wie Peru anerkannt zu werden und Legitimation zu erhalten; und zum anderen mit der Persönlichkeit des künftigen Kosmokraten, des kommenden revolutionären Weltenherrschers.
Guzmán ist, ohne Zweifel, eine Person, die fasziniert. Niemand konnte ahnen, daß in dem eher rundlichen, nach außen extrem ruhig scheinenden Professor, der mit seiner dickrandigen Brille und in traditionellem Anzug täglich über die Plaza de Armas von Ayacucho spazierte, derart versengende Feuer brannten.
Seine Sache war ein „Abenteuer des Denkens“, und der erste große Akt spielt während der 70er Jahre. Für seine Anhänger an der Universität von Huamanga ist Guzmán ein Kosmokrat, der sich auf den mythologischen Entwurf konzentriert, der fähig ist, den Mythos in einen logischen Diskurs umzuwandeln, der den Geist der jungen Studenten für Möglichkeiten „öffnet“, die bis dahin außerhalb ihrer Reichweite waren. In diesem Prozeß verwandelt sich der Kosmokrat in eine Figur, die mehr mit geistigen Führern im Stile eines Ayatollahs zu tun hat als mit den Führerfiguren der marxistischen Tradition (vielleicht mit Ausnahme von Kim Il Sung). Und sein „Gedankengut Gonzalo“ ähnelt eher einer „tibetanischen“ Version des Marxismus, in der die revolutionäre „Idee“ in bestimmten Individuen oder „Schwertern“ fleischliche Gestalt annimmt: Marx, Lenin, Mao, Gonzalo, so wie sich der Geist Buddhas in jedem neuen Dalai Lama verkörpert. Nur auf diese Weise, indem er sich in Fundamentalismus verwandelt, war es Sendero Luminoso möglich, den bewaffneten Kampf unter derart schlechten Bedingungen zu beginnen und sich gegen eine Realität zu panzern, die so erdrückend anders war, als Guzmán sie interpretierte.
Die Dimension dieses Bruchs mit der Tradition der lateinamerikanischen Guerilla ermißt sich in drei entscheidenden Dokumenten, die Guzmán in den Jahren 1979 und 1980 verfaßt. Der erste, „Für die neue Fahne“, wurde im September 1979 geschrieben, acht Monate vor Beginn des bewaffneten Kampfes, und er fängt mit einem Satz aus der Bibel an: „Viele sind es, die gerufen werden, doch nur wenige sind es, die auserwählt werden.“ Der Anlaß des Dokuments ist der Schwur auf die – selbstverständlich rote – Fahne der Partei; doch im Mittelpunkt steht die Notwendigkeit des persönlichen, inneren Bruchs: „Zwei Fahnen [kämpfen miteinander] in der Seele, die eine schwarz, die andere rot. Wir sind Linke, vernichten wir die schwarze Fahne [im Original: ... hagamos holocausto con la bandera negra. - d.Ü.]. (...) Reinigen wir unsere Seele, reinigen wir uns gründlich.“ Der gesamte Text ist durchzogen von Bibelzitaten: „Die Partei ist das Salz der Erde, der Baum des Lebens, alle anderen sind Parasiten.“ Vor dem Hintergrund des 500-Jahre-Datums wird gegenwärtig gerne der „andine“ oder „Indio“-Charakter von Sendero Luminoso betont, der deswegen im Gegensatz zu den verwestlichten peruanischen Eliten stehe. Doch gerade Sendero ist nicht ohne die westliche und christliche Tradition zu verstehen.
Der zweite Text mit dem Titel „Über drei Kapitel unserer Geschichte“ wurde im Dezember 1979 geschrieben, fünf Monate vor Beginn des bewaffneten Kampfes. Die Tausende von Jahren der Geschichte Perus werden auf drei große Kapitel konzentriert, die von der Dunkelheit zum Licht führen. Das erste umfaßt die Zeit von der Ankunft des Homo sapiens in den Anden bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, als gemeinsam mit der neuen imperialistischen Ordnung, „eine neue Klasse erwacht, das Proletariat, und ein neues Kapitel erscheint“. Wenn etwas ins Auge sticht, dann die geringe Verbundenheit mit der Geschichte. In einem Land wie Peru überrascht die völlige Kälte des Textes in Bezug auf das Inka-Reich. Es wird nicht versucht, ein verlorenes Paradies wiederzufinden. In der absolut klassenbezogenen Sicht Guzmáns spielt das Ethnische keinerlei Rolle. Die spanische Eroberung wird als ein bloßer Austausch der Ausbeuter gesehen. Das Paradies liegt allein in der Zukunft.
Die Hauptrolle im zweiten Kapitel spielen das peruanische Proletariat und José Carlos Mariátegui (peruanischer Marxist, der 1928 die Sozialistische Partei gründete, die sich wenige Wochen nach seinem Tod in Kommunistische Partei umbenannte und als deren allein legitimer Erbe sich Sendero Luminoso versteht – d.Ü.). Aus der Dunkelheit, wie in einer Kosmogonie, „beginnt ein helles Licht zu erscheinen, ein strahlendes Licht, dieses Licht, das wir in der Brust, das wir in der Seele tragen. Dieses Licht verschmolz mit der Erde, und dieser Lehm wurde zu Stahl. Licht, Lehm, Stahl, 1928 steigt die PARTEI empor.“ Es handelt sich nicht mehr um biblische Sprache; es ist eine Bibel mit einer proletarischen Genesis.
Aber die Geschichte beschleunigt sich und wird schwindelerregend, ekstatisch. Das zweite Kapitel endet in den 70er Jahren, als „unser Volk erleuchtet wurde von einem noch intensiveren Licht, dem Marxismus-Leninismus-Gedankengut Mao Tsetung. Wir waren zuerst geblendet, am Anfang ein Riß unerschöpflichen Lichts, Licht und nichts weiter; Stück für Stück begann unsere Netzhaut, dieses Licht zu verstehen; wir senkten die Augen und begannen, unser Land zu sehen, Mariátegui und unsere Wirklichkeit, und wir fanden unsere Perspektive: der Wiederaufbau der Partei.“ Berg Tabor, Ostern und Pfingsten verdichtet in einem einzigen Satz. Die Schüler sind bereit, die Protagonisten des dritten Kapitels zu sein, das genau an dem Tag beginnt, an dem der Kosmokrat diese Rede hält.
„Wir sind diejenigen, die den Anfang machen“, heißt auch der letzte und wichtigste der drei hier betrachteten Texte Guzmáns. Es ist eine Rede, die er am Ende der ersten Militärausbildung Sendero Luminosos hielt, weniger als einen Monat vor Beginn der bewaffneten Aktionen. Gereinigt, in der Lage, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu deuten, ist es nun möglich, zur Aktion überzugehen, „die strategische Offensive der Weltrevolution“ zu beginnen: „Das Volk bewaffnet sich, erhebt sich und rebelliert und legt dem Imperialismus und den Reaktionären den Strick um den Hals, packt sie an der Gurgel und peinigt sie; und unweigerlich wird es sie erwürgen, unweigerlich. Es wird das reaktionäre Fleisch zerfetzen, in Fasern zerlegen, und diese schwarzen Abfälle wird es in den Schlamm werfen; was übrigbleibt, wird es verbrennen, und die Aschen wird es in alle Winde zerstreuen, damit nichts als die düstere Erinnerung an das bleibt, was niemals wiederkehren wird, weil es nicht wiederkehren kann und darf.“
Die Sprache kündigt die Gewalt an, die folgen wird.
Mit jeder neuen Etappe des „Volkskriegs“ wird Senderos Todeskult erbitterter. 1982 spricht Guzmán von der Notwendigkeit, „die Quote“ (an Blut) zu bezahlen, die für den Triumph der Revolution erforderlich ist. Ab 1989, als Sendero den Kampf um das „strategische Gleichgewicht“ ausruft, beginnt Guzmán von der einen Million Toten und der Zweckmäßigkeit eines „Genozids“ zu sprechen, um dieses Gleichgewicht zu erreichen. Dieser Todeskult wird dadurch unterstützt, daß die Individualität der Anhänger Senderos verneint wird – und damit auch der Wert ihres individuellen Lebens. Sie müssen „ihr Leben auf der Fingerspitze tragen“, sie müssen bereit sein, „die Quote zu zahlen“ und „den Fluß aus Blut zu überqueren“.
In „Drei Kapitel unserer Geschichte“ wird die imaginierte Zukunft ausgeschmückt wie Science fiction: „Laßt uns in der zweiten Hälfte des kommenden Jahrhunderts sein; die Geschichte wird von uns geschrieben sein, und die nachfolgen, sind wir, die zukünftigen Kommunisten, denn wir sind unerschöpflich. Und es werden immer neue kommen, und die, die kommen werden, sind wir.“ Die Zukunft ist ein totales „Wir“. Gleichzeitig jedoch sind in diesem großen „Wir“ einige gleicher als andere. Es ist die Führerfigur, dessen Ego in einem nie dagewesenen Persönlichkeitskult exaltiert wird. (Es darf nicht übersehen werden, daß bei Stalin und Mao dieser Kult erst nach ihrer Machtübernahme einsetzt!) Nur um ein Beispiel zu nennen: Seit Anfang der 80er Jahre müssen alle Anhänger einen „Unterwerfungsbrief“ unterzeichnen – Unterwerfung nicht unter die Partei oder die „revolutionäre Linie“, sondern unter „Presidente Gonzalo“.
Bereits in „Las dos banderas“ hatte Guzmán diese Entwicklung erklärt, indem er auf ein Werk Beethovens zurückgriff, das in China während der Kulturrevolution verboten worden war: „Die Neunte Symphonie hat ein Charakteristikum“, schreibt Guzmán dort: „Ein leichtes Brausen wächst an, und es schmiedet sich ein Licht, bis es in musikalischer Explosion zerbirst. Die Stimme des Menschen erscheint, die Stimme der Masse des Chores, es ist die Erde, die sich in Stimme verwandelt. Vor dem Hintergrund der Masse des Chores singen vier einzelne Personen, die Masse bringt diese Stimmen, die höher singen, hervor. Aber es gibt eine Stimme, die noch höher gelangen muß. Nie zuvor konnte jemand diese Stimme singen, aber in diesem Jahrhundert gelang es nach vielen Versuchen, und das, was unmöglich war, wurde erreicht.“
Es ist offensichtlich, daß Guzmán sich mit dieser Stimme identifiziert, die „noch höher gelangt“. In dem obsessiven Widerhall dieses Traums, inmitten eines Flusses voll Blut, verwandelt sich der Führer-Lehrer in einen Lehrer-Messias. Die Rückbezüge auf Mariátegui verschwinden. „Presidente Gonzalo“ wird „das vierte Schwert des Marxismus“ nach Marx, Lenin und Mao, der Solist der Neunten Symphonie, der den Posten dort übernimmt, wo Mao scheiterte, und der fähig ist, aus der Brust heraus das „do“ zu singen, das die Welt verändert.
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