: „Man hat immer auf Abwehr gesetzt!“
■ Herbert Leuninger ist Pfarrer und Sprecher von Pro Asyl/ Er plädiert für eine Flüchtlingspolitik auf internationaler Ebene/ Hinter der Asyldebatte steckt für ihn die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit in diesem Land
taz: Ist der Artikel 16 für die Zeit der Völkerwanderung noch die angemessene rechtliche Grundlage?
Herbert Leuninger: Gerade! Mit dem Artikel 16 ist zum ersten Mal ein Menschenrecht deklariert worden, das es in der Form zuvor nicht gab, das auch die Genfer Flüchtlingskonvention nicht vorsieht. Eben ein Menschenrecht und nicht nur eine Institutionengarantie oder eine Verpflichtung des Staates, Flüchtlinge aufzunehmen. Dieses Menschenrecht wurde aus einer bestimmten historischen Situation heraus formuliert und deklariert. Wenn es einmal in der Welt ist, dann gibt es dahinter kein Zurück mehr. Es bedeutet, daß die Aufnahme von Flüchtlingen gesehen werden muß als ein individuelles Recht, das sich ableitet aus dem Schutz und der Wahrung der Menschenwürde. Das sollte in allen Ländern gelten.
Der Artikel 16 schützt politisch, rassisch oder religiös Verfolgte. Ist das für die Fluchtbewegungen unserer Zeit nicht viel zu eng und ist nicht das Grundgesetz aus diesem Grunde reformbedürftig?
Das ist natürlich ein anderer Gesichtspunkt. Für das, was Flucht heute bedeutet, werden der Artikel 16 — und übrigens auch die Genfer Konvention — zu eng ausgelegt. Wir fordern deshalb auch seit geraumer Zeit, den Begriff der politischen Flucht anders auszulegen. Immerhin ist es schon ein Fortschritt, daß als Ergebnis der Asyldiskussion ein eigener Status für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge wahrscheinlicher geworden ist. Aber die Diskussion um eine erweiterte Definition des Verfolgten-Begriffes können wir uns derzeit überhaupt nicht erlauben.
Warum nicht?
Der Artikel 16 ist in seiner menschenrechtlichen Substanz bedroht, die wir verteidigen müssen. Es würde uns einfach als totaler Utopismus angelastet, wollten wir jetzt über einen erweiterten FLüchtlingsbegriff diskutieren. Vor dem Hintergrund der Pogrome kann man nur fordern: Schluß mit dieser entsetzlichen Asyldebatte, die im Grunde eine Stellvertreterdebatte für andere Probleme ist. Jeder weiß doch, daß eine Verfassungsänderung nichts an den Fluchtursachen und nichts an der Zuflucht in diese Republik ändert.
Ist nicht an der gegenwärtigen Diskussion insofern ein wahrer Kern, als mit den großen Wanderungsbewegungen aus Osteuropa Menschen kommen, die den Schutz weniger nötig haben als andere? Alle aber gehen in den Rechtsweg des Artikel 16, der bekanntlich schwerfällig ist.
Wenn es heute eine Gruppe gibt, die bei den ethnischen Auseinandersetzungen in Südosteuropa besonders bedroht ist, dann sind das die Roma. Unverkennbar sind sie insgesamt bedroht. Wenn wir unter vergleichbar wesentlich günstigeren Bedingungen diese Menschen kaum noch schützen können oder wollen: Wie muß es dann erst in anderen Ländern zugehen? Wir müssen zu einem neuen Verständnis diesen Menschen gegenüber finden und dürfen uns der Verpflichtung, sie zu schützen, nicht dadurch entziehen, daß wir sie von einem bestimmten Schutzrecht ausschließen.
Im Sommer, als das Drama der bosnischen Flüchtlinge offenbar wurde, gab es in der Bevölkerung eine große Hilfsbereitschaft. Jetzt, im Herbst, ist das Land verfinstert. Reicht das Motto des „Hände weg vom Artikel 16!“ aus, um die geschwundene Akzeptanz wiederherzustellen?
Wir hatten im Sommer die einmalige Chance, verständlich zu machen, was Flüchtlingsnot ist und daß daraus die Verpflichtung zur Aufnahme dieser Flüchtlinge erwächst. Damals ist allerdings eine schwerwiegende Weichenstellung vorgenommen worden: die Privatisierung der Flüchtlingsaufnahme. Wir haben das sehr kritisiert, weil das eine Aufgabe des Staates ist. Es war absehbar, daß private Initiativen mit dieser Aufgabe hoffnungslos überfordert sein würden, denn es ging um eine Aufnahme nicht über Wochen, sondern über Monate, vielleicht über Jahre. Außerdem hat die zweimalige Hilfe für je 5000 Menschen viele Menschen glauben gemacht, damit wäre es getan.
Hochproblematisch ist aber auch: Wir führen eine metapoltische Debatte, die in Wahrheit gar nicht um den Artikel 16 geht. Hinter der Asyldebatte verbergen sich die Fragen nach der Verteilungsgerechtigkeit in unserem Land, nach dem drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch Osteuropas und seinen unabsehbaren Folgen und der ökologischen Globalkrise. Das alles wurde auf die Mühlen des Artikel 16 gelenkt, wobei wir uns in einer zwanghaften Diskussion befinden. Am liebsten würde ich von Stund an nicht mehr über den Artikel 16 reden.
Aber Sie wissen natürlich, daß das gar nicht geht. Die Mehrheitsmeinung droht abzugleiten in eine Abwehrhaltung. Müssen wir die Zuwanderung nicht wirklich steuerbarer machen?
Vor zehn Jahren wurde bereits die gleiche Frage gestellt wie heute: Ist das Boot voll? Das ist eher eine politische Frage als eine der vorhandenen Ressourcen. Die Ressourcen sind eigentlich da. Schon vor Jahren hätte klar sein müssen, daß die Aufnahme von Flüchtlingen eine dauerhafte Regelaufgabe von Kommunen und Ländern ist. Man hat aber törichterweise immer auf die Abwehr gesetzt. Das ist der Grund für die Engpässe von heute. Heute kann die Forderung nur sein, daß Vorsorge für die künftigen Fluchtbewegungen getroffen wird. In welcher Größenordung, kann niemand sagen. Zweitens, und darin haben wir die Bundesregierung immer bestärkt: Es wäre sehr wünschenswert, wenn die Rechte der UN-Flüchtlingskommissarin gestärkt würden und sie den EG- Ländern beispielsweise Flüchtlinge zuweisen könnte. Flüchtlingspolitik kann man kaum mehr auf nationaler Ebene machen, auf einer Ebene, die sich im nächsten Wahlkampf legitimieren muß. Es handelt sich um eine internationale Aufgabe. Aber die vorhandenen Rechtsinstrumente der Vereinten Nationen reichen überhaupt nicht aus. Diese Mängel den Flüchtlingen anzulasten und sie der Aggression freizugeben — das geht einfach nicht!
Im internationalen Kontext hätte die Bundesrepublik durchaus eine Lokomitivenfunktion. Die hat sie bisher im Sinne der Abwehr mit den Verträgen von Schengen und Dublin wahrgenommen, nicht aber im Sinne der Vorbereitung der Europäischen Gemeinschaft auf schwere, große Aufgaben der Flüchtlingsaufnahme.
Für das nächste Jahrzehnt ist leicht vorstellbar, daß die Bundesrepublik jederzeit bereit sein muß, Flüchtlinge in großer Zahl aufzunehmen, Stichwort GUS. Muß sie in solchen Situationen nicht umgekehrt imstande sein, anderen die Tür zeitweilig zu verschließen?
Das tut man schon, ohne es in der öffentlichen Diskussion zu sagen. Osteuropa ist noch eine andere Sache, aber zusammen mit der EG hat die Bundesrepublik 100 Länder auf eine Liste gesetzt, die der Visapflicht unterliegen. Auf diese Weise werden schon jetzt hunderttausende Menschen, Flüchtlinge, abgehalten, in die westeuropäischen Länder zu kommen. Wir haben das seinerzeit kritisiert, was wir jetzt kaum aufrecht erhalten können, weil dann jeder Argumentationskonsens zusammenbräche. Aber ich betone: Es gibt diese Art der Abwehr, fragwürdig, aber erfolgreich. Außerdem hat unser Ausländergesetz von 1991 einen enormen Selektions- und Abwehrmechanismus eingebaut.
Wenn wir mögliche Einwanderungskonzeptionen ansprechen, dann vertrete ich die Meinung: Es gibt eine umfassende Einwanderung in die Bundesrepublik. Neben der Einwanderung im Rahmen der Europäischen Freizügigkeit und der der Aussiedler gemäß Artikel 116, haben wir ein kontinuierliches Nachzugspotential bei der Arbeitsmigration. Viele tausend Menschen aus Osteuropa mit einer zeitlich begrenzten Arbeitserlaubnis sind potentielle Einwanderer. Eine Gruppe, die in die Hunderttausende geht, sind Menschen, die ohne legalen Status bereits viele Jahre in der Bundesrepublik leben und arbeiten. Ähnlich steht es um die Mehrheit der nur geduldeten Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten, die faktisch nicht merh zurückgehen können. Für all diese Gruppen ist eine rechtliche Regelung im Sinne einer Einwanderung erforderlich. Interview: Tissy Bruns
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