: „Aktion Heldenklau“
Im Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge herrscht Chaos/ Personalmangel läßt die Aktenberge wachsen/ UNHCR-Vertreter: „Politisch gewollte Überbelastung“ ■ Von Bernd Siegler
Miletia S. Ist nervös. Die nächsten vierzig Minuten werden über ihr weiteres Schicksal entscheiden. Die 33jährige Bulgarin sitzt ihrem Entscheider im Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Zirndorf gegenüber. Miletia S. fürchtet, daß es für sie nahezu aussichtslos ist, in Deutschland Asyl zu bekommen. Sie kommt aus einem sogenannten „Massenland“, ist eine von 22.000 BulgarInnen, die seit Januar in der Bundesrepublik Asyl beantragt haben. Doch sie hofft, unter den 0,1 Prozent zu sein, die es schaffen.
Ihr Gegenüber ist im gleichen Alter, er ist Jurist und Spezialist in Sachen Bulgarien. „Hinsichtlich der Demokratisierung ist Bulgarien das fortschrittlichste Land im früheren Ostblock“, weiß er aus Informationen des Auswärtigen Amtes und anderer Stellen. Langsam übersetzt der Dolmetscher die Schilderung der Frau, die seit Juli 1991 in einer Sammelunterkunft in der Oberpfalz auf ihre Anhörung wartet. Miletia S. ist wegen ihres Mannes geflohen, der eigentlich nicht mehr ihr Mann ist.
Bereits kurz nach der Heirat 1979 wurde ihr von den bulgarischen Behörden nahegelegt, sich von Valeri M. zu trennen. Er war mehrfach wegen Republikflucht im Gefängnis. 1981 wurden sie geschieden, doch für Miletia blieb Valeri „ihr Mann“. Sie lebte weiterhin mit ihm zusammen, bekam ein Kind von ihm und ertrug die Schikanen der Behörden. 1990 gelang Valeri M. Die Ausreise, Miletia folgte ihm ein Jahr später, beide beantragten Asyl.
Nachdem sie dies alles dem Entscheider erzählt hat, stellt der die ausschlaggebende Frage nach der individuellen Gefährdung der Frau bei ihre Rückkehr nach Bulgarien. Miletia S. hat Angst um ihren Mann, Angst um ihr Kind. Aber um sich selbst? Sie weiß nur, daß sie bei ihrem Mann bleiben will. „Wenn nicht hierher, dann gehe ich woanders hin, aber nie nach Bulgarien zurück!“
Die kurze Anhörung ist vorbei. Eine von fünf, die jeder Entscheider in Zirndorf im Durchschnitt pro Tag absolviert. Das Soll von 500 Entscheidungen pro Jahr schaffen sie bei den „Massenländern“ Rumänien, Bulgarien, Türkei und Jugoslawien spielend. Auch bei Miletia S. hält sich der Entscheider nicht lange auf. Ihr Asylantrag wird abgelehnt. In der vierseitigen Begründung wird sie einen langen Absatz zur Demokratisierung in Bulgarien finden. Auch Valeri M. wird abgelehnt — mit der gleichen Begründung.
„Unsere Entscheidungen sind in diesem Jahr noch von keinem Gericht aufgehoben worden“, verkündet Walter Lill, Bereichsleiter der Entscheider für die Länder Bulgarien und Polen, nicht ohne Stolz. Daß in Frankreich 16 Prozent der Rumänen, in der Bundesrepublik aber nur 0,2 Prozent anerkannt werden, ist ihm kein Problem. Mehr Sorgen bereiten dem 42jährigen Regierungsdirektor die Engpässe im Bundesamt.
Bis unter die Decke stapeln sich in der Außenstelle Nürnberg- Langwasser die bislang aufgelaufenen 305.000 unerledigten Fälle, Schicksale von 451.000 Menschen. Allein in diesem Jahr ist der Aktenberg um knapp 200.000 Personen angewachsen, denn von bisher gestellten 368.000 Asylanträgen konnten die Entscheider lediglich 171.000 bewältigen. „Der Berg wird immer größer“, stöhnt Lill und erinnert an das Fehlen von Schreibkräften, von Entscheidern und Dolmetschern.
Nahezu 1.500 Stellen sind hier derzeit vakant. Für neu eingestellte Entscheider ist aber kein Platz mehr. „Die neuen Leute werden ins Amt reingepumpt, die Zimmer doppelt belegt“, erzählt Lill. Erst seit kurzem ist Heimarbeit erlaubt. Die Kritik beispielsweise vom Bund der deutschen Verwaltungsrichter, wonach in Zirndorf die Verfahren verzögert würden, läßt Lill nicht gelten. „Wir tun, was wir können“, rechtfertigt er die Dauer von durchschnittlich 13 Monaten für ein Normalverfahren. Lill schiebt den schwarzen Peter weiter an die Gerichte. „Dort stehen noch 100.000 Fälle zur Entscheidung an.“
Um den chronischen Personalengpaß im Bundesamt zu beheben, sollen nun 1.300 Bundesbeamte — für 1000 Mark mehr im Monat — für ein Jahr zum Asyleinsatz. In einer weiteren Aktion sollen 500 Bundeswehr-Offiziere eigens für die Anhörung von Rumänen und Bulgaren herangezogen werden. In zweiwöchigen Kurzlehrgängen sollen sie in Kasernen des Bundesgrenzschutzes für ihren künftigen Einsatz ausgebildet werden. „Aktion Heldenklau“ heißt diese Aktion im Amtsjargon.
Uwe Behrens, 37 Jahre alt und seit vier Jahren als Verwaltungsjurist beim Bundesamt, wird die Soldaten auf die Länder Bulgarien und Rumänien vorbereiten. Er spricht von einer „Bulgarenschwemme“, die die „Polenschwemme“ von 1989 abgelöst habe. Mit seinem Chef Lill ist sich Behrens einig, daß es „nicht gerade motivationsfördernd“ sei, Entscheidungen zu fällen, die dann nicht vollzogen würden. Angesichts nicht durchgeführter Abschiebungen hätten die Mitarbeiter, so Lill, das „Gefühl für den Papierkorb zu arbeiten“.
Entsprechend sei auch die Motivation der Entscheider, meint Werner Buchhorn. Der 23jährige Jurist aus Berlin arbeitet seit eineinhalb Jahren im Auftrag des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) in Zirndorf. Mit fünf Kollegen soll er die Entscheidungen des Amts überwachen und insbesondere die Einhaltung der Genfer Konvention. „Die Qualität der Entscheidungen ist gesunken, die Sorgfalt ist nicht mehr da“, lautet das Fazit der Überprüfung. Dafür macht Buchhorn aber nicht die Einzelentscheider verantwortlich. Angesichts der Überlastung des gesamten Bundesamtes sei „kein faires Verfahren, das dem Individuum gerecht wird, mehr garantiert“.
Das für eine Kapazität von 100.000 Flüchtlinge pro Jahr ausgelegte Amt hat inzwischen dreimal so viele Fälle zu bearbeiten, immense Altlasten und eine Vielzahl neuer, unerfahrener Mitarbeiter zu verkraften. Buchhorn hält es schlichtweg für „verheerend“, wenn jetzt auch noch Bundeswehroffiziere in Kurzlehrgängen für Anhörungen ausgebildet würden und die Entscheider dann im Schnellverfahren nurmehr nach Aktenlage entscheiden müßten. Für ihn ist der Fall klar: „Es gibt keine Krise des Asylrechts, sondern eine Krise der Verwaltung. Jahrelang hat man der Entwicklung zugesehen, ohne durch entsprechende Personalaufstockungen in Zirndorf rechtzeitig zu reagieren.“
Die vielzitierte Weisungsungebundenheit und Entscheidungsfreiheit der Entscheider, hält Buchhorn für eine Farce. „Die haben doch ihre Länderlisten im Kopf“, erklärt er und vermißt „den Mut, abweichende positive Entscheidungen zu treffen, die zwar nicht dem geltenden Asylrecht und der Auslegung des Grundrechts entsprechen, wohl aber der Genfer Konvention“.
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