: Die verschwundene Wirklichkeit Von Mathias Bröckers
Das viel diskutierte Auseinanderfallen von Medienwelt und Wirklichkeit, von Fernseh-Realität und wirklichem Leben, ließ sich anhand der Berliner Demo vom 8.November beispielhaft beobachten: Die Medien, namentlich das Fernsehen, gehen ihren eigenen Bildern auf den Leim und kleben daran fest, sie nehmen ihren fokussierten Ausschnitt für das Ganze und machen damit 99 Prozent der Wirklichkeit ungeschehen, und sie sind unfähig, diese Rolle zu reflektieren.
So wurden die 350.000 auf den Berliner Straßen zum Randereignis, und die 300, die mit ihrem Spektakel die TV-Objektive magisch anzogen, zur Hauptsache: Von Hunderten Stunden Film, die die TV-Teams aus aller Welt abgedreht hatten, werden die immer gleichen 30 Sekunden wieder und wieder wiederholt. Das Ergebnis ist eine simulierte, künstliche Wirklichkeit, die die Gesamtheit des realen Geschehens mit Verachtung straft. Die 350.000 waren verschwunden, und es dauerte drei oder vier Tage, dieses virtuelle Verschwinden zu korrigieren. Daß es ausgerechnet Politiker waren, die mit ihrer Medienschelte zu dieser Korrektur beitrugen, hat allerdings nichts mit einem neu erwachten, medienkritischen Bewußtsein zu tun, sondern eher damit, der Rufschädigung im Ausland entgegenzuwirken.
In offenen, dynamischen Systemen können kleinste Bewegungen gewaltige Auswirkungen haben, und weil ein Flügelschlag in Peking ein Gewitter über Berlin auslösen kann, nennt die Chaostheorie dieses Phänomen den „Schmetterlingseffekt“. Auch die 300 Störer, die die Ordnung von 350.000 ins Chaos stürzten, haben sich diesen Effekt zunutze gemacht, doch sie konnten es nur dank der gewaltigen Verstärkung durch die Medien — und sie sind nicht die einzigen. Die vielleicht 7.000 gewalttätigen Rechtsradikalen, die Nacht für Nacht Asylunterkünfte angreifen, sind dank dieses Verstärkungseffekts in der Lage, eine Bevölkerung von 70 Millionen als ausländerfeindlich und protofaschistisch zu diskreditieren. So wie ein paar tausend „Scheinasylanten“, die medial immer wieder vorgeführt werden, dafür sorgen, daß alle Flüchtlinge und Hilfesuchenden als potentielle Betrüger und Kriminelle gelten. Oder ein paar Dutzend Politiker und „Experten“ von „Asylantenflut“ und „Flüchtlingsströmen“, von „Überflutung“ und „vollem Boot“ reden und durch mediale Verstärkung tatsächlich ein allgemeines Klima von „unhaltbaren Zuständen“ schüren. Mit ein bißchen Medienkritik wie nach der Berliner Demo ist es nicht getan. So wie die verschwundenen Demonstranten zurückgeholt wurden, müßte die vom Fernsehen unterdrückte Wirklichkeit allenthalben zurückgeholt werden, allem voran die Tatsache, daß der gigantische „Flüchtlingsstrom“ nicht einmal 0,3 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Und daß für das reichste Land Europas wenig Grund besteht, deswegen aus dem Häuschen zu geraten. Dieser Hysterie, die den Rechtsradikalismus schürt, ist mit neuen und schärferen Gesetzen nicht beizukommen. Was ansteht, ist eine schärfere Distanz der Medien zu ihren Bildern und ein neues Bewußtsein für den Schmetterlingseffekt, den sie produzieren.
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