■ Interview mit dem australischen Generalleutnant John M. Sanderson, Befehlshaber der UNO-Truppen in Kambodscha
: „Das hier ist nicht Jugoslawien“

taz: Bereiten die Roten Khmer eine Offensive vor?

John M. Sanderson: Es gibt keinen Zweifel daran, daß die Truppen der beiden wichtigsten Fraktionen, der Roten Khmer und der Regierung in Phnom Penh, Vorbereitungen für etwas getroffen haben, was sie „offensive Operationen“ in der Trockenzeit nennen. Beide haben diese Vorbereitungen mit der Begründung getroffen, sie bereiteten sich auf eine Offensive der anderen Fraktion vor. Ich denke, daß sich beide in den vergangenen Monaten der Regenzeit konsolidiert haben und an den Gebieten festhalten wollen, die sie gegenwärtig besetzt halten.

Hat es seit dem 12. Juni, dem Beginn der zweiten Phase des Friedensprozesses, Veränderungen in den Positionen der jeweiligen Truppen gegeben? Sind sie seitdem in Gebiete vorgedrungen, in denen sie zuvor nicht präsent waren?

Meines Erachtens nicht, doch es werden viele Behauptungen aufgestellt. Über viele Dörfer behaupten beide Seiten, die Kontrolle zu haben – in vielen Gegenden in Kambodscha sagen mir Leute, daß ihr Dorf des Nachts in der Hand der Roten Khmer ist und am Tage in der Hand der Regierungstruppen. Es gibt also eine Reihe umstrittener Gebiete, aber ich glaube nicht, daß es große Verschiebungen oder territoriale Gewinne zwischen den beiden gegeben hat. Allerdings gibt es kaum einen Zweifel daran, daß sich der Einfluß der Roten Khmer in den Gebieten verstärkt hat, die von den beiden kleineren Widerstandsfraktionen kontrolliert werden ...

... den Soldaten Sihanouks und des ehemaligen Ministerpräsidenten Son Sann.

Und das liegt vor allem daran, daß diese beiden kleineren Gruppierungen von der militärischen zur politischen Aktion übergewechselt sind. Sagen wir, zur politisch-kommerziellen Aktion.

Haben sie die Kontrolle verloren, oder kooperieren sie mit den Roten Khmer?

Sie kooperieren mit den UNO- Truppen. Aber sie machen auch Geschäfte mit der Politik. Die Roten Khmer haben in gewisser Weise ein Vakuum gefüllt. Über das Ausmaß des Einflusses, das die Roten Khmer vor der Unterzeichnung des Friedensabkommens im Oktober letzten Jahres in diesen Gebieten hatten, sind wir uns nicht völlig sicher. Es steht außer Frage, daß sie beträchtlichen Einfluß in den Gebieten der anderen zwei Widerstandsfraktionen hatten. Und es scheint, daß sie ihren Einfluß dort konsolidiert haben.

Es scheint doch überraschend, wie wenig Sie über Stärke und Strategie der Roten Khmer wissen.

Ach, wir sind ganz gut darüber informiert, was jetzt passiert. Aber um zu wissen, was sich verändert hat, muß man wissen, wie die Situation war, bevor wir kamen. Fakt ist jedenfalls, daß die Truppen der Roten Khmer und auch der beiden anderen Widerstandsfraktionen beträchtlichen Einfluß tief im Landesinneren Kambodschas hatten, und nicht nur in den Regionen, die klar als ihre Einflußgebiete ausgewiesen waren.

Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens haben sich die Fraktionen in den politischen Prozeß begeben, haben Parteibüros in den Provinzen eröffnet etc. Auch die Roten Khmer haben in ihren Gebieten – aber nicht nur dort – ihren politischen Einfluß konsolidiert. Da sie sich aber nicht entwaffnen ließen, verbinden sie die politische Arbeit mit offener militärischer Präsenz. Nun sollte die Entwaffnung aller vier Fraktionen – so die Intention des Friedensabkommens – ja ein sicheres und neutrales Terrain schaffen, in dem dann ein neutrales politisches Umfeld für die Abhaltung von Wahlen entstehen kann.

Und jetzt macht also ein Teil der UNO-Streitmacht mit den Vorbereitungen für die Wahlen weiter, während das Militär ...

Wir alle machen weiter. Doch die Roten Khmer und übrigens auch die Regierung von Phnom Penh versuchen jetzt über militärische Aktivitäten ihre Verhandlungsbasis im politischen Prozeß zu stärken. Dazu gehört auch, daß sie den Eindruck erzeugen wollen, daß sie die Dinge durch militärische Aktivitäten auf dem Lande beeinflussen können. Damit wollen sie zeigen, daß es sehr riskant wäre, sie aus dem Friedensprozeß auszuschließen. Diese militärische Fähigkeit wird von einigen Leuten, die wieder ihre eigenen politischen Zwecke verfolgen, als Vorbereitung für eine Offensive gesehen oder etikettiert. Ich glaube also nicht, daß es „die große Offensive“ geben wird. Natürlich, es werden Brücken gesprengt, und auf dem Lande werden die Leute terrorisiert ...

An welchem Punkt würden Sie sagen: „Das geht zu weit“?

Na, all das geht schon zu weit, es sind alles Verletzungen der Waffenstillstandsvereinbarungen, der Bestimmungen des Friedensabkommens. Nach den Pekinger Verhandlungen müssen wir eine Antwort auf die Frage erhalten, ob es überhaupt noch ein Abkommen gibt.

Sehen sich die Roten Khmer immer noch als ein Teil des Prozesses?

Bis Peking waren sie das, bis dahin haben sie nur immer behauptet, die UNO-Truppen hielten sich nicht an das Abkommen.

Halten Sie denn eine Fortführung der Wahlvorbereitungen für machbar, wenn die Roten Khmer nicht teilnehmen?

Vorstellbar sind drei Szenarien. Erstens, die Roten Khmer sagen: „Wir machen mit. Wir kantonieren unsere Soldaten und arbeiten in dem ganzen Prozeß mit.“ Für diese Option ist es sehr spät, wenn der Zeitplan noch eingehalten werden soll. Zweite Option: Sie beteiligen sich nicht am Prozeß, aber sie behindern ihn auch nicht. Das heißt, sie stehen abseits und beobachten ihn. Das würde bedeuten, daß ein Teil der Bevölkerung von den Wahlen ausgeschlossen würde. Die dritte Option ist, daß sie in ganz Kambodscha Widerstand gegen den Ablauf des Prozesses leisten.

Die erste Option wäre gut für alle. Die zweite Option wäre machbar, wir können mit der Wählerregistrierung fortfahren und Wahlen für die große Mehrheit der Bevölkerung durchführen. Wenn sie die dritte Option wählen, würden sie sich weit außerhalb des Friedensabkommens stellen und gegen die internationale Gemeinschaft.

Gesetzt den Fall, Option zwei trifft ein, und es wird in allen Gebieten, außer denen der Roten Khmer, gewählt. Würden die Blauhelme dann Kambodscha verlassen?

Die weitere Präsenz wird davon abhängen, wie die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung vonstatten gehen, und von der Situation im Lande. Wenn es eine Verfassung und eine Regierung gibt, dann muß das neu geklärt werden.

Was geschieht aber, wenn die Blauhelme selbst Objekt militärischer Angriffe werden?

An diesem Punkt sind wir nicht.

Es hat doch schon eine Reihe von Vorfällen gegeben ...

Ja, gewiß, und ich nehme das auch ernst. Aber ... das ist hier wirklich nicht wie in Jugoslawien oder Angola. Im großen und ganzen sieht man doch, wie die Bevölkerung in Kambodscha ihr Leben in die Hand nimmt. Seit ich vor einem Jahr zum ersten Mal hier war, hat sich das Leben der Leute enorm verändert, ist der Wohlstand gewaltig gewachsen, wenn auch nicht überall im Lande. Es gibt immer noch Gegenden, die keinen Kontakt mit uns haben, aber wir erreichen täglich mehr Leute. Interview: Jutta Lietsch