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"Bei Berührung Erfrierungen und Erstickung"

■ AktivistInnen der Initiative Stresemannstraße stoppten in 20 Minuten vier Gefahrguttransporte / Täglich Explosionsgefahr

stoppten in 20 Minuten vier Gefahrguttransporte/ Täglich Explosionsgefahr

Vielen ist das Unglück von Herborn noch vor Augen: Ein Tanklaster knallt gegen eine Hausmauer, explodiert, mehrere Gebäude fangen Feuer, Menschen sterben in den Flammen. „Eine derartige Katastrophe kann sich jederzeit auch in der Stresemannstraße ereignen“, mahnt jetzt die AnwohnerInnen- Initiative.

Denn: Unter den 6000 Lkws, die täglich über den Asphalt donnern, sind viele Gefahrguttransporte. Die Folgen eines Unglücks in dieser Straße wären vermutlich noch weitaus verheerender als in dem hessischen Kleinstädtchen.

Was die AktivistInnen der „Strese-Ini“ gestern um kurz nach elf Uhr allein in 20 Minuten auf der Trasse stoppten, hatte es in sich: Zunächst ein 30000-Liter-Tanklaster mit Phenyl-Iso-Cyanat, Kennzeichnung 2487 in der Gefahrgutliste. Für den Fall eines Unfalls beschreibt der Gefahrenabwehrkatalog: Explosionsgefahr, Lebensgefahr bei Einatmen, Absperrung im Umkreis von 50 Metern, Wassereinsatz vermeiden.

Nur wenige hundert Meter dahinter der nächste Gefahrguttransport. Kennzeichnung: 22/1977. Ladung: Stickstoff — tiefgefroren und flüssig. Vorsicht ist geboten, wg. Explosionsgefahr. Weiter informiert der Katalog: Bei Berührung Erfrierungen und Erstickung. In 50 Metern Umkreis absperren. Kein Wassereinsatz, da sich sonst giftige Gaswolken bilden.

Auf der Gegenfahrbahn passiert gerade eine weitere Bombe auf Rädern das Phantom der Oper. Kennzeichnung: 225/2201. Ladung: 30000 Liter Stickstoffoxid der Hoechst Arzneimittel-Chemie — kurz: Lachgas. Der Gefahrenabwehrkatalog warnt: Explosionsgefahr. Lebensgefahr bei Einatmen. Im Umkreis von 50 Metern absperren. Bei Feuer Evakuierung im Umkreis von 1000 Metern.

Kurz dahinter ein Laster mit der Kennzeichnung 44/2448: Schwefel geschmolzen. Auch hier: Explosionsgefahr, Stichflammenbildung möglich. Bei Einatmen Lebensgefahr....

Es war nur das Ergebnis von Stichproben, was die Strese-Ini gestern der Öffentlichkeit demonstrierte: Mitglieder haben beobachtet, daß sogar Phosgen-Tanks durch diese Wohngegend transportiert worden sind. Phosgen ist ein Kampfgas, das in der Chemie- Industrie verwendet wird. Hamburgs Umweltsenator Fritz Vahrenholt warnte schon vor Jahren in seinem Buch „Seveso ist überall — die tödliche Gefahr der Chemie“ vor der Explosion eines 30000-Liter-Phosgen-Tanks. Vahrenholt: „Innerhalb der ersten zehn Sekunden nach dem Unfall würde jedes Lebewesen im Umkreis von 100 Metern augenblicklich getötet ... Innerhalb von einer halben Stunde wäre auf einem Areal von 1,7 Quadratmetern jeder Mensch einer Dosis ausgesetzt, die bei jedem Zweiten zum Tode führte, das sind bei einer mittleren Bevölkerungsdichte 2100 Personen.“ In der Tat, der

1Gefahrenabwehrkatalog sagt zu 1076 — Phosgen: Absperrung im Umkreis von 500 Metern, Evakuierung der Bevölkerung im Umkreis von 4000 Metern, in Windrichtung von 8000 Metern.

Ob es derartige Transporte gegeben hat, kann Polizeisprecher Mike Wenig nicht sagen: „Wir wissen es einfach nicht.“ Eigentlich dürften nämlich solche Stoffe nicht auf der Straße, sondern nur auf

1Gleisen transportiert werden. Doch wenn ein Unternehmen keinen eigenen Gleisanschluß habe, könne es sich eine Sondergenehmigung holen. Und unter 500 Kilogramm müßte der Transport nicht einmal der Polizei gemeldet werden.

Die Anwohner-Ini möchte nun Bausenator Eugen Wagner zum Handeln zwingen. Denn die Stresemannstraße ist immer noch offiziell

1in Hamburg als „Ländergefahrgutweg“ ausgeschrieben und in den „Länderwegekatalog“ aufgenommen. Doch statt sich um Alternativen zu bemühen, um die „Bomben auf Rädern“ um Hamburg herumzuleiten, ist Wagner offensichtlich mehr damit beschäftigt, die Verkehrsberuhigungsmaßnahmen seiner Vorgängerin Traute Müller wieder rückgängig zu machen.

Kai von Appen

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