: Nicht zu fassen
■ Die Bremer Kunsthalle zeigt ihren Skulpturenschatz / Ein Irrtum führte zu einem haptischen Großereignis
hier die Skulptur
von einem
Männerkopf
Emile-Antoine Bourdelle: Bildnisbüste von Ingre, Sammlung Kunsthalle
Der Zweck ist ein schnöder: Der neue, große Bestandkatalog der Kunsthalle, Abteilung Skulptur, ist so fertig wie er sein kann, wenn das Geld zum Druck fehlt. Deshalb präsentiert die Kunsthalle dieser Tage Teile ihrer Skulpturensammlung, die man wegen des
Umbaus drei Jahre nicht sehen konnte. Vielleicht, so die Überlegung des Hauses, macht schon der Anblick der gehorteten Schätze Spendierhosen anziehen. Ein fünfstelliger Betrag wird gesucht.
Keineswegs gibt die Ausstellung von Skulpturen deutscher und französischer Künstler 1850-1950 einen Eindruck davon, was in diesen Jahren in beiden Ländern an Kunst gemacht wurde. Vielmehr zeigt sich die erstaunlich bis erschreckend konsequente Sammellinie der Kunsthalle. Angekauft (und gespendet) wurde fast ausnahmslos figürliche Plastik. Nichtgegeständliches fand in den Zeiten der Direktoren Gustav Pauli, Emil Waldmann und Günter Busch nicht nach Bremen.
Dalou, Degas, Lehmbruck, natürlich der Schwerpunkt Rodin: Auf ihre Arbeiten ist die Kunsthalle stolz. Auch eingangs Falgieres „Diana“ ist ein schmuckes Stück, zudem mit Hintersinn aufgestellt: Üblicherweise blickt Diana über die Schulter zur Seite, mit Grund! Denn wer sie anblickt, den zerfleischen die Hunde. Die eintretende BesucherIn kommt allerdings von der Seite und schaut Diana prompt in die Augen... Lauter solche Einfälle hatte Kustos Andreas Kreul.
Ein großer Teil der 80 Exponate (von 360 insgesamt) stammt von den Lieblingskünstlern der Kunsthalle, Gustav Seitz und Gerhard Kolbe. Kreul: „Ein wahnsinniger Schwerpunkt“. Der aktuellste Seitz ist sicher sein „Catchertorso“, der praktisch nur aus Brustlappen, Bauch und Beinstummeln besteht. Clara Rilke-Westhoff hat ihren Rainer Maria porträtiert, und Matares „Liegende Kuh“ ist unbedingt eine Attraktion. Hier endete übrigens der mäßig interessierte Bummel des Berichterstatters. Ein Aufseher wies ihn darauf hin, daß der stellvertretende Direktor gestattet habe, die Bronzen anzufassen, sofern man keine Ringe trage. Hei, das änderte das Programm!
Was ist Matares Kuh doch für ein kühles Spiegelei. Mit solch rührend spitzigen Hörnern, die schon mal abgebrochen waren und sauber angedübelt sind. Was bricht da los, wenn die Finger sehen dürfen! Zaghaft geht man Kolbes „Kauernder Japanerin“ übers unglaublich glatte Knie. Mit Seitz' „Schreitendem Villon“ hatten sicher schon viele Mitleid: sein Kopf ist ganz schwarzgestreichelt. Heikel wird das Befingern und Streicheln, wenn die Figuren lebensgroß sind. Ehe man Kolbes polierte „Malaiin“ auf Wange und Schlüsselbein prüft, schaut man sich vorher doch lieber scheu um. Karl Albikers „Giuliette“ dagegen: ein knochiges
hier die kunst
volle Männer
Kopfbüste
Skulptur: Auguste Rodin
Wesen mit rauher Oberfläche; erst recht Camille Claudels Kopf einer Banditin „Giganti“: welch lederne Lippen, welch herbe Wange. Nur Rodins „Das eherne Zeitalter“, ein träumerisch sich reckender, irgendwie sinnender Jüngling, trägt ein Schildchen „Nicht berühren!“ Was schade ist.
Es gibt großes Geschrei, als der Kustos von der Anfaßerlaubnis erfährt; stehenden Fußes wird dieser „Unfug“ wieder untersagt. Der saure Handschweiß! Das haptische Großerlebnis bleibt ein Traum, Blinden reserviert. Für sie gab es vor Jahren in der Kunsthalle eine Dunkelkammer mit Kunst zum Anfassen. (Bis 10.Januar) Bus
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