: Suche nach neuen Welten
Zielort verschiedener Fluchten: Exilland Mexiko in Porträts ■ Von Irene Schülert
„Fluchtort Mexiko“ – der Titel des soeben im Luchterhand-Literaturverlag erschienenen Buches ist Programm: Dem Herausgeber Martin Hielscher geht es nicht (nur) um eine weitere Präsentation des Exillandes Mexiko. „Fluchtort“ umfaßt vielmehr eine Vielfalt von Motiven, die dieses Land zum Ziel von Fluchten verschiedener Art gemacht haben. Es handelt sich also um mehr als um ein Porträt des mittelamerikanischen Staates, der mit seiner liberalen Aufnahmepolitik vielen politisch Verfolgten Schutz bot.
Aber auch auf Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle, die keiner unmittelbaren politischen Verfolgung ausgesetzt waren, übte Mexiko jahrzehntelang eine Anziehung aus, die sich vor allem aus der Suche nach einer anderen „Welt“, einem anderen Leben speiste.
Angesichts der zunehmenden Barbarei in Europa prognostizierte man den endgültigen Untergang der westlichen Zivilisation und machte sich daran, in den Trümmern der einstmals „unterlegenen“ Kulturen einen Gegenentwurf aufzuspüren. In der Hoffnung auf eine „magische“ Kultur zog es beispielsweise zahlreiche Surrealisten ins Land. „Die rationalistische Kultur Europas hat Pleite gemacht“, schrieb Antonin Artaud 1936 in der Erwartung, in Mexiko der Kräfte teilhaftig zu werden, die „aus dem indianischen Boden hervorsprudeln“.
Daneben war Mexiko jedoch auch Fluchtort für Menschen, die vor sich selbst flohen, oder Zufluchtsort für behördlich Gesuchte, denen die Weite des Landes und das Fehlen einer funktionsfähigen Administration ausreichende Unterschlupfmöglichkeiten boten. Es wurde zum Ziel von Einzelgängern, von Umtriebigen und Getriebenen, die ihre engen persönlichen Lebensverhältnisse flohen, um in dem „blühenden und stacheligen Mexiko“ (Neruda) ihr Glück zu suchen. Und nicht zuletzt bot es dann auch ein Versteck für diejenigen, die guten Grund hatten, ihre Spuren in der Alten Welt zu verwischen und sich in der Neuen Welt eine andere Identität zuzulegen.
Das Buch porträtiert ausgewählte Einzelschicksale, die die Verschiedenheit der Fluchtgründe erkennbar werden lassen. Dazu gehören Malcolm Lowry, Autor des Romans „Unter dem Vulkan“, und William S. Burroughs, der sich mit dem Roman „Junkie“ einen Namen machte.
Für den exzessiven Trinker Lowry war Mexiko das „Paradies“, ein Ort, der ihm Verheißung und Tod zugleich bedeutete. Getrieben von Versagensängsten, die er im Alkohol zu ertränken suchte, und immer auf der Flucht „vor den unerfüllbaren Ansprüchen seines Vaters, vor der Fremdenpolizei und am meisten vor sich selbst“, nahm er sich 1957 mit Alkohol und Tabletten das Leben. Burroughs wiederum, drogenabhängig und homosexuell, floh vor der amerikanischen Drogenbehörde nach Mexiko. Mit dem Buch „Junkie“, einer schonungslosen Beschreibung seiner Drogensucht, avancierte er zum Idol der „Beat Generation“ – der Aufenthalt in Mexiko war der „Auftakt für seine literarische Karriere“.
B. Traven, der Mann, der zeit seines Lebens falsche Fährten legte, um die Spuren seiner Herkunft zu verwischen, der immer betonte, wie unbedeutend die Biographie eines schöpferischen Menschen sei, und der noch 1959 in Hamburg (anläßlich der Filmpremiere zu „Totenschiff“) behauptete, er sei Nordamerikaner, verlebte in Mexiko eine produktive Zeit. Hier entstanden „Der Schatz der Sierra Madre“, „Der Busch“ und „Die weiße Rose“. Ausgangspunkt seines lebenslangen „Versteckspiels“ war die Beteiligung an der Münchner Räterepublik, deretwegen er später verfolgt wurde, in den Untergrund ging und auf verschlungenen Wegen nach Mexiko gelangte.
Neben der Dokumentation dieses breiten Spektrums von Fluchtmotiven geht es dem Herausgeber des Buches, an dessen Konzeption die Experten Fritz Pohle und Klaus Meyer-Minnemann mitgearbeitet haben, um die Hervorhebung der kontinuierlichen Bedeutung Mexikos als Exilland: Auch nach der Zerschlagung des europäischen Faschismus hielt Mexiko seine Türen etwa für Verfolgte aus lateinamerikanischen Ländern offen. Beispielsweise für Mempo Giardinelli, den Schriftsteller und Journalisten, der 1976 vor der argentinischen Militärdiktatur floh, „mit nicht viel mehr als der Nachricht von einem ersten verbotenen und verschollenen Roman...“.
Die konzeptionelle Gestaltung des Buches ist einleuchtend: kurze Einführungen in Leben und Werk der Künstler und Autoren (mit Schwerpunkt auf deren Aufenthalt in Mexiko), eine Auswahl von Texten und Zeugnissen, in denen die Porträtierten selbst zu Wort kommen, einführende Essays zum deutschsprachigen, spanisch-republikanischen und lateinamerikanischen Exil sowie zu den Surrealisten in Mexiko. Darüber hinaus enthält der Band umfangreiches Bildmaterial und einige bislang unveröffentlichte oder unübersetzte Texte. So finden sich beispielsweise Nachrufe von Anna Seghers und Egon Erwin Kisch auf Tina Modotti, die sozialkritische Fotografin.
Bislang in deutscher Sprache nicht zugänglich und eigens für dieses Buch übersetzt (Maralde Meyer-Minnemann) ist ein Text des aus Spanien stammenden Philosophen José Gaos, der über Anpassung und Nichtanpassung im Exil, über die Gefühle von Verbannung und „Versetzung“ reflektiert. Und schließlich gibt es auch für Cineasten noch eine Rarität: einen Vortrag von Luis Buñuel (gehalten 1958, übersetzt von Dieter Reichardt) über „Das Kino als Instrument der Poesie“.
Buñuel hegte – wie viele – angeblich keine besondere Vorliebe für Lateinamerika, erlebte jedoch in Mexiko seine produktivste Zeit, erwarb die mexikanische Staatsbürgerschaft und starb dort schließlich.
„Fluchtort Mexiko“. Herausgegeben von Martin Hielscher. Luchterhand-Literaturverlag, Hamburg/Zürich 1992, 256 Seiten, 98DM.
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