Vom Blutskandal zur Staatsaffäre

Frankreichs Sozialisten zittern vor den politischen Konsequenzen der HIV-Infizierung Tausender von Patienten/ Ehemalige Regierungsmitglieder müssen vor Sondergericht erscheinen  ■ Aus Paris Bettina Kaps

Mit Affären macht es Frankreichs Präsident Mitterrand ähnlich wie sein Freund aus der Pfalz: Schweigend sitzt er sie aus und hofft, daß die Zeit arbeiten und den Schleier des Vergessens ausbreiten wird. Beim Skandal um das HIV-verseuchte Blut hat diese Taktik nicht funktioniert. Medien, Opposition und Öffentlichkeit ließen sich nicht mit der Verurteilung von nur drei Funktionären der Bluttransfusion und des Gesundheitswesens Ende Oktober abspeisen. Sie bohrten weiter. Es gilt herauszufinden, wer dafür verantwortlich ist, daß das staatliche Gesundheitswesen 1984 und 1985 so entgleisen konnte, daß 1.500 Bluter und 5.000 bis 10.000 Menschen, die bei Operationen Transfusionen erhielten, mit dem Aids-Virus infiziert wurden.

Die Franzosen wollen sich nicht mehr damit abfinden, daß die Verantwortung für dieses Drama einer anonymen politisch-technisch-medizinischen Bürokratie zugeschoben wird, sondern verlangen eindeutige Schuldzuweisungen.

Der Unmut ist so groß, daß der Präsident Stellung nehmen mußte. In einem Fernsehinterview am 9.November bat Mitterrand die Opfer des „entsetzlichen Dramas“ um Verzeihung. Vor allem aber gab er grünes Licht für ein politisches Sondergerichtsverfahren gegen die damals zuständigen MinisterInnen und gegen seinen Ex- Regierungschef. Da die französischen Gesetze ausschließen, daß Regierungsmitglieder für ihre Amtshandlungen vor ein normales Gericht gestellt werden, hat nun eine äußerst komplizierte und langwierige Prozedur begonnen. Zugleich kündigte Mitterrand an, daß er das Verfahren, das allgemein als völlig unbrauchbar angesehen wird, durch eine Verfassungsreform ändern will. Davon werden seine Parteifreunde jedoch nicht profitieren.

Im Kreuzfeuer der Fragen und Anschuldigungen stehen der damalige Gesundheitsminister Hervé, Ex-Sozialministerin Dufoix und Ex-Premierminister Fabius. Bisher hatten sie nur als Zeugen im Gerichtsverfahren gegen den Chef des Nationalen Zentrums für die Bluttransfusion, Garretta, seinen Mitarbeiter Allain und den Gesundheitsdirektor Roux ausgesagt. Nun soll geklärt werden, ob sie selbst dafür verantwortlich sind, daß die verseuchten Blutkonserven wissentlich bis Oktober 1985 ausgegeben und von der Krankenkasse die Kosten dafür erstattet wurden.

Fabius wäre ein normales Gericht lieber gewesen. Nun befürchtet er eine Art Lynchjustiz, in der die bürgerlichen Parteien den Sozialisten die lange Zeit an der Macht heimzahlen. Natürlich wird die Affäre – den Toten und Todkranken sei Dank – für die Rechten ein wunderbares Wahlkampfthema bis zu den Parlamentswahlen im März abgeben.

„Ich bin getroffen, aber ihr seid anvisiert“, sagte der Parteichef seinen Genossen, die um so solidarischer hinter ihm stehen, als Mitterrand seinen früheren Schützling fallenließ. Der Präsident hat die Sozialisten in ein Dilemma gebracht: Sie müssen nun die Prozedur mittragen, um zu beweisen, daß sie Aufklärung und Justiz nicht blockieren wollen. Deshalb sind sie gezwungen, gemeinsam mit der Opposition die Anklageschrift gegen ihre Parteifreunde zu unterzeichnen. Der Senat hat bereits folgende Delikte benannt: Totschlag und fahrlässige Verletzungen, unterlassene Hilfeleistung und Täuschung. Da vor allem die Beschuldigungen gegen Fabius auf wackeligen Beinen stehen, suchen sie nun nach einer Formulierung, die nicht entehrend klingt und dennoch auch von den Bürgerlichen akzeptiert wird.

Es steht fest, daß Fabius im Kampf gegen Aids entschlossener als seine Minister gehandelt hat: Gegen den Wunsch seiner Berater hatte er im Juni 1985 die Zulassung des Aids-Testes angekündigt und verfügt, daß vom 1. August an alle Blutspenden auf Aids getestet würden. Dafür handelte der Ministerpräsident sich damals das Gerücht ein, er sei schwul. Über Fragen der Transfusion war der frühere Regierungschef offenbar nicht informiert. Das Verhalten von Hervé und Dufoix hingegen scheint angreifbarer.

Die Anschuldigungen der französischen Öffentlichkeit weisen jedoch noch über den eigentlichen Blutskandal hinaus. Sie betreffen die von den Sozialisten geweckten und in neun Regierungsjahren bitter enttäuschten Hoffnungen. „Wie ist es möglich“, fragt etwa das französische Magazin L'Express, „daß die Sozialisten, die den Staatskult hegen, die angeblich Solidarität über alles andere stellen, die Geld als Ordnungsprinzip im Sozialbereich ablehnen, die sich gerne als Richter im Namen der Tugend aufspielen – daß gerade sie verantwortlich sind für das, was in Frankreich gewiß als ,Skandal des Jahrhunderts‘ in die Geschichte eingehen wird?“