: „Vier Prozent mehr Lohn sind zuwenig“
■ Interview mit Michael Wendl, stellv. ÖTV-Bezirksvorsitzender in Bayern
taz: Herr Wendl, die ÖTV-Vorsitzende Monika Wulf-Matthies hat gesagt, in der ÖTV sei man sich einig, daß bei der jetzt anstehenden Tarifrunde „die Sicherung des Realeinkommens“ im Vordergrund stehe. Sind sie sich einig?
Michael Wendl: Ja, das ist eine klare Position.
Heißt das, daß die ÖTV einen Ausgleich für die Inflationsrate anstrebt, oder was bedeutet Sicherung des Realeinkommens?
Die Inflationsrate erfaßt ja nur die Preissteigerungsrate, aber nicht die Verluste durch Steuern und Sozialbeiträge beim Nettolohn. Sicherung des Realeinkommens meint deshalb immer Preissteigerung plus eines zusätzlichen Betrages, der zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht genauer quantifizierbar ist.
Sieht das die ÖTV-Chefin auch so?
Ich glaube, das ist unser aller Interpretation. Man muß natürlich diskutieren, was wir beim Nettolohn ausgleichen wollen. Wenn wir einen höheren Bruttolohn durchsetzen, dann fällt der Nettolohnanstieg für viele Arbeitnehmer wegen der Steuerprogression automatisch niedriger aus. Ob wir das ausgleichen wollen, weiß ich gar nicht, denn wir sind ja vom Grundsatz her der Auffassung, daß diejenigen, die mehr verdienen, auch mehr Steuern zahlen sollen.
Die Inflationsrate dürfte bei 4 Prozent liegen. Erfordert Reallohnsicherung einen höheren Abschluß?
Ich meine, daß 4 Prozent zur Reallohnsicherung zu wenig sind. Die unterste Grenze liegt bei 5 Prozent.
Es heißt, die Kassen der ÖTV seien nach dem letzten Streik leer. Eine größere Auseinandersetzung könne sich die Gewerkschaft gar nicht leisten?
Wenn die öffentlichen Arbeitgeber im öffentlichen Dienst ein Sonderopfer erzwingen wollen, dann werden wir um die Frage eines Arbeitskampfes nicht herumkommen. Sollte uns jedoch ein Abschluß auf dem Verhandlungswege gelingen, der zwar unterhalb der Marke Reallohnsicherung liegt, aber nicht einem Lohndiktat gleichkäme, dann stellt sich in so einer Situation natürlich die Frage, ob man dann noch in einem Arbeitskampf die restliche Streikkasse der ÖTV riskiert. Wenn die Arbeitgeber allerdings den Kurs der letzten Tarifrunde wieder fahren, dann schließe ich einen erneuten Arbeitskampf nicht aus.
Ist denn noch was in der Kasse?
Die ÖTV hat einen beträchtlichen Teil ihres liquiden Vermögens für den Streik hergegeben, aber eben nur einen Teil.
Politiker und Wirtschaftsinstitute fordern von den Gewerkschaften einen Solidarbeitrag zur Finanzierung der deutschen Einheit. Bei 5 Prozent mehr Lohn kann man doch von einem Solidarbeitrag wohl kaum sprechen?
Den Solidarbeitrag leisten die Arbeitnehmer doch schon lange. Das Essener RWI hat erst vor einigen Wochen eine Studie zum Thema Gerechtigkeitslücke vorgelegt. Daraus geht doch klar hervor, daß Arbeiter und Angestellte den relativ größten Teil der Einheitskosten finanzieren. Die Auffassung der Wirtschaftsinstitute, mit niedrigeren Löhnen besser durch die Wirtschaftskrise kommen zu können, halte ich für ziemlich abenteuerlich. Gespräch: Walter Jakobs
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