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Drei Tage, die die Welt bewegten

■ Ein Dokumentationsband über den Putsch in Moskau Statt Analysen ein inspirierendes Gesamtkunstwerk

Das Bild ist berühmt geworden: Mit vereinten Kräften ziehen die Moskauer BürgerInnen am selben Strick, der das Denkmal des „Eisernen Felix“, des ersten Leiters der KGB-Vorläuferinstitution Tscheka, Feliks Edmundowitsch Dzierzynski, von seinem Sockel holen soll. Die Enthusiasten werden jedoch gewarnt: Der Lubjanka-Platz, der sich vor dem KGB- Gebäude befindet, wird der Wucht des gewichtigen Kommunisten (15 Tonnen, ohne Sockel) nicht standhalten, die Decke zum darunterliegenden Metro-Tunnel wird durchbrechen, Menschen werden verletzt werden – der erste Geheimdienstler der UdSSR und Organisator des „Roten Terrors“, dem Gewalt Programm war, hätte so einen posthumen Erfolg zu verzeichnen gehabt.

Am 23.August 1991 war das, um 17Uhr Ortszeit. Der Auslöser dieser symbolträchtigen Tat war der Augustputsch vom 19. bis 21.August, der das Gegenteil von dem auslöste, was er bewirken sollte, nämlich die neue Zementierung der alten (KGB-)Macht. Statt dessen veranlaßte der Putsch die Moskauer zur Vertreibung der sie jahrzehntelang regierenden Betonköpfe – jener im Politbüro, dieser auf Sockeln. In diesen drei Tagen, die die Welt bewegten, spulte in rasender Geschwindigkeit der Film eines revolutionären Prozesses ab, der in der Konzentration der Ereignisse und seiner Intensität nur in Zeitlupe und als Standbild nachzuvollziehen ist. Diese Gelegenheit bietet der im Insel Verlag erschienene, sorgfältig bebilderte Dokumentationsband „Der Putsch in Moskau“ in Form eines „Essays“ aus Zitaten, die, mit der bewährten (filmischen) Montagetechnik arbeitend, die Ereignisse in jenem Tempo abspielen läßt, welches der Leser für angemessen hält.

Vorwiegend Pressenotizen informieren in oft verblüffender Gelassenheit aus der besetzten Hauptstadt und deren Einflußbereich: der Erlaß über die Verhängung des Ausnahmezustandes, ein Aufruf zum Barrikadenbau, eine Impression aus der Moskauer Metro, der schon ironische Bericht über den in der zweiten Putschnacht seelenruhig in seiner Datscha schlafenden Janajew, aber auch Reaktionen aus den ehemaligen sowjetischen Satelliten von Vilnius bis Aschchabad.

Dem werden subjektive Aussagen gegenübergestellt. Interviewprotokolle, etwa mit Krjutschkow, Schewardnadse, aber auch mit anonymen Beobachtern stehen neben dem Insiderbericht von Gorbatschows Assistenten Tschernajew, einem Horoskop („Wenn Sie sich entscheiden, an einem Montag ein neues Leben zu beginnen, tun Sie dies am 19.August“) und mehreren Auszügen aus Alexander Kabakows Roman „Der Geschichtenerzähler“ (aus dem er während des Putsches im Radio las). Letztlich sind es die Zwischenräume, die diese kurze Zeit des Putsches als lebendige Bilder vor den Augen der Betrachter entstehen läßt. Schnitt und Gegenschnitt, der schlafende Janajew, der mit gegen Leningrad rollenden Panzern konfrontiert wird, machen diese Zwischenräume zu einem Film, den ein Kommentator verdorben hätte.

Noch am Abend des 23.August beseitigen dann drei Kranwagen die Statue, ohne den Platz zu beschädigen oder Menschen zu verletzen, und ein Ladeschlepper nimmt Dzierzynski mit. Für immer? Mstislav Rostropowitsch, der bereute, in der Eile, die ihn aufgrund des Putsches nach Moskau trieb, das Cello vergessen zu haben, schlägt am Tag des Denkmalsturzes vor, den Sockel mit einem Denkmal für Alexander Solschenizyn zu besetzen. Aber noch steht der Sockel leer am Lubjanka-Platz, dahinter die KGB-Zentrale. Besser wäre es, ihn so rasch wie möglich zu belegen. Mit Solschenizyn. Oder mit Rostropowitschs Cello. Christoph Keller

„Der Putsch in Moskau. Berichte und Dokumente“. Originalausgabe, herausgegeben vom Verlag Text, Moskau. Deutsche Ausgabe, herausgegeben von Tina Delavre, Insel Verlag 1992, 208 Seiten, 58DM.

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