Stadtmitte: Dummheit tötet
■ Der erste Obdachlose dieses Winters erfror, während der Senat prüft und wartet
In der Nacht vom 12. auf den 13. November erfror Harald Herrmann, Menne (36), vor der Kirche der Emmaus-Gemeinde am Lausitzer Platz, wo er zusammen mit zwei Kumpels seit drei Jahren „Camping“ machte. Einen Tag später trauerten 20 Obdachlose öffentlich vor dieser Kirche, an der ein Jahr zuvor schon einmal eine obdachlose Frau ums Leben gekommen war. Menne ist der erste Kältetote dieses Jahres in Berlin.
Menne ist erfroren, weil er keine Kraft mehr fand, seine offenen Beine behandeln zu lassen und seine Papiere zu ordnen; um sich eine Kostenübernahme des Sozialamts für einen Platz in einer „Läusepension“ zu verschaffen. Menne ist erfroren, nicht, weil er betrunken gewesen wäre oder er so gerne im Freien schlief, sondern weil die Sozialämter keine Schlafsäcke als Nothilfe für die Obdachlosen abgeben, obwohl bekannt ist, daß ein Mensch ab +8Grad Celsius erfrieren kann. Menne ist erfroren, weil die Obergrenze, die das „Sozi“ bei Einzelnen zur Mietsicherung übernimmt, 453 DM monatlich beträgt, das Amt aber die Pensionsbetreibermafia mit 50 DM und mehr pro Nacht und Person im Vier- bis Sechsbettzimmer schmiert, so daß Kostenübernahmen von monatlich 1.500 DM und mehr hier die Regel sind. Kein Fall für den Bundesrechnungshof, den Bund der Steuerzahler oder den Staatsanwalt?
Menne ist erfroren, weil es für über die Hälfte der „Anspruchsberechtigten“ in der Tat einfacher ist, im Freien zu schlafen als sich helfen zu lassen und weil Menschen, die oft vor kurzem noch Arbeit und Wohnung hatten, es in diesen „Pennen“ nicht aushalten. Die Menschenwürde wird hier nicht nur bei Ausländern angetastet. Menne ist erfroren, während Mitglieder der 2. Berliner Wohnungslosenoffensive an der Visastelle für Kriegsflüchtlinge am Waterlooufer, wie in den Nächten seit dem 2. November unter dem Motto „Wir Wohnungslose wissen, was es heißt, in der Kälte zu stehen“, warme Getränke verteilten.
Solidarität ist Alltag unter Obdachlosen, und nirgendwo hat sich die „Wiedervereinigung“ so schnell vollzogen, wie gerade in diesen Kreisen. Wäre dies nicht so, hätte es schon wesentlich mehr Todesfälle im „Milieu“ gegeben. Menne ist erfroren, weil niemand ihm erlaubt hat, den ungenehmigten Leerstand in Wohnungen des Bundesvermögensamtes von sich aus zu beenden. Erfroren, weil es keine Konzepte für die Zwischennutzung von ehemals alliiertem Wohnraum gibt und die Oberfinanzdirektion mit diesem Wohnraum freiwillig nicht rausrückt.
Menne ist tot, weil das Recht auf Wohnen nicht einklagbar ist, obwohl es aus diversen Verfassungsartikeln, der UNO-Menschenrechts- und der europäischen Sozialcharta ableitbar ist. Menne ist erfroren, weil das Recht auf körperliche Unversehrtheit für Wohnungslose nicht gilt, und er ist erfroren, weil der Senat „prüft“, „nachdenkt“, „abwartet“ und sich den Hintern auf Fachtagungen zum Thema wundsitzt, anstatt mit offenen Augen durch die Straßen der Stadt zu laufen, die sie dafür bezahlt, Konzepte zu haben, aber nicht dafür, auf „Konzepte zu warten“. Menne ist am Mißmanagement verreckt.
Er ist erfroren, weil uns das im Grunde genommen egal ist. Und es ist uns egal, weil er überflüssig war, denn er hatte kein Geld. Er ist vor wirklichkeitsfremder, feister Selbstzufriedenheit erfroren. In einem Land, das nach industrialisierter Korruption im Fühlen, Denken, Handeln geradezu stinkt. Rainer Hikel/
Manuel R. Stemmler
Mitglieder der 2. Wohnungs-
losenoffensive Berlin
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