: Wut und Trauer nach dem Tod von Silvio M.
■ Mehrere tausend Menschen beteiligten sich gestern an Schweigemarsch/ Silvio M. von Rechtsextremen erstochen
Berlin. Mehrere tausend Teilnehmer, zumeist aus der autonomen Szene, beteiligten sich gestern an einem Schweigemarsch für den in der Nacht zum Samstag erstochenen Silvio M. (27). Während die Polizei von rund 2.000 Teilnehmern sprach, bezifferten die Veranstalter die Zahl der Demonstranten auf 5.000. Der Zug hatte sich am frühen Nachmittag auf der Frankfurter Allee neben der U- Bahn-Station Samariterstraße formiert und zog anschließend durch Friedrichshain zum Ernst-Thälmann-Park. Die Demonstration verlief überwiegend friedlich. In der Immanuelkirchstraße/Ecke Winsstraße wurden jedoch gegen fünf Uhr nachmittags Steine und Leuchtspurgeschosse auf ein Gebäude geworfen, in dem sich ein Büro der neonazistischen FAP befinden soll. Einige Scheiben gingen zu Bruch. Kurz war es bereits auf der Dimitroffstraße zu Spannungen gekommen, als Polizisten auf beiden Seiten des Demonstrationszuges im Spalier aufmarschierten. Gerüchte kamen auf, daß Vermummte aus dem Zug herausgegriffen werden sollten. Nachdem die Veranstalter über ihren Lautsprecherwagen auf ein Vermummungsverbot aufmerksam gemacht und damit einen Wunsch des Einsatzleiters erfüllt hatten, zogen sich die Beamten zurück.
Während des ganzes Trauermarsches war es zwischen den Autonomen und Anhängern der Spartakisten und der „Revolutionären Kommunisten“ zu Auseinandersetzungen gekommen. Autonome versuchten den Anhängern der beiden Gruppierungen, ihre Megaphone zu entreißen. Sie warfen ihnen vor, die Demonstration für ihre Zwecke umzumünzen. Forderungen nach Freilassung des peruanischen Guerillaführers Gonzalo oder von Honecker und Mielke wurden mit Pfiffen und Gelächter quittiert. Vor Beginn der Demonstration hatte im Zwischendeck der U-Bahn-Station Samariterstraße eine Mahnwache stattgefunden. Unter der Uhr in Richtung Gabelsberger/Mainzerstraße, wo der 27jährige M. in der Nacht zum Samstag niedergestochen worden war, stand ein Holzkreuz. Neben einer schwarz-roten Anarchistenfahne hockten Jugendliche und weinten. Neuankömmlinge blieben stehen, die meisten in schwarzer Kluft, zündeten Kerzen an, warfen Geld in eine Büchse, mit der für Silvio M. und seine Freunde gesammelt wurde.
Auf dem Weg zur Disco niedergestochen
Silvio M. und drei seiner Freunde wollten in der Nacht zum Samstag noch schnell in den „Eimer“, eine Szenedisco am Rosenthaler Platz. Weil sie es eilig hatten, überlegten die vier BesetzerInnen aus der Friedrichshainer Schreinerstraße, ob sie besser mit der U-Bahn fahren oder ein Taxi nehmen sollten. Sie entschieden sich für die U- Bahn. Auf dem Zwischendeck des Bahnhofs Samariterstraße kamen ihnen mehrere Männer und eine Frau entgegen. Einer der Männer, der den anderen in einigen Metern Abstand folgte, trug auf seiner Bomberjacke einen für die Besetzer provozierenden Aufnäher: „Ich bin stolz ein Deutscher zu sein“. Es kam zu einer Rangelei, bei der weder der Mann mit dem Aufnäher noch seine Jacke beschädigt wurde. Die vier BesetzerInnen gingen anschließend auf den Bahnsteig. Als nach einigen Minuten immer noch kein Zug kam, entschieden sie sich nun doch für ein Taxi. Auf dem Zwischendeck trafen sie erneut auf die Gruppe, die ihnen „ihr linken Schweine“ entgegenrief. Die Rechten gingen auf Silvio und die anderen los, wobei zwei von ihnen überraschend ein Messer in der Hand hielten. Einer der beiden stieß zu. Silvio M. starb eine Stunde später an mehreren Lungenstichen, die beiden anderen Männer wurden in ein Krankenhaus eingeliefert. Einer von ihnen schwebte bis gestern nachmittag in Lebensgefahr. Die Frau, die unverletzt geblieben war, erlitt einen Schock. Diesen Tathergang haben FreundInnen der vier sowie Silvios Arbeitskollegen anhand von Aussagen der Beteiligten zusammengetragen. Die Polizei hatte zunächst von einem „Bandenkrieg“ gesprochen. Daß aber auch die Polizei die Täter im rechtsextremen Bereich vermutete, ergibt sich aus der Tatsache, daß die ermittelnden Beamten mit der unverletzt gebliebenen Frau noch in der Tatnacht mehrere Treffpunkte von Nazis, unter anderem in Lichtenberg, nach den Tätern absuchte. Daß es sich bei den Tätern um Rechtsextreme gehandelt hat und die Angegriffenen unbewaffnet waren, bestätigte gestern einer der Verletzten im Krankenhaus. Silvio M. wohnte in der Schreinerstraße 47, dem ersten besetzten Haus in Friedrichshain, in dem auch heute noch vorwiegend Ostberliner leben. Zu DDR-Zeiten hatte er 1987 die „Kirche von unten“ mitbegründet, nach den Stasi-Krawallen am 7. Oktober 1989 saß er mehrere Wochen im Knast. Zusammen mit Freunden hatte er im 1991 eine Druckerei gegründet und sich in der Ost-Berliner Antifa-Bewegung engagiert. In der Szene wurde die Nachricht von der Ermordung Silvios mit Wut und Trauer aufgenommen. Noch in der Nacht zum Samstag gab es eine Spontandemonstration in Friedrichshain. An einer ungenehmigten Demonstration durch Friedrichshain und Lichtenberg beteiligten sich am Samstag etwa 1.000 Menschen. Dabei wurden die Scheiben zweier Neonazikneipen in der Storkower Straße und in Lichtenberg eingeworfen. sev/rada
Siehe auch Seite 22
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen