: Fünf Jahre Polamidon-Substitution
■ Das Berliner Modell zur Behandlung Suchtkranker hat sich bewährt/ Entscheidend ist die psychosoziale Betreuung
Tiergarten. Polamidon ist die linksdrehende Form der allgemein als Methadon bekannten Substanz. Es ist doppelt so wirksam wie das eigentliche, beidseitig drehende Methadon. Das Opiat unterdrückt Heroin-Entzugserscheinungen. Es euphorisiert und sediert nicht, macht aber selbst abhängig. Seit fünf Jahren werden in Berlin Abhängige mit der Ersatzdroge substituiert. Constanze Jacobowski, leitende Ärztin der Clearing-Stelle, die diese Arbeit koordiniert, zog gestern Bilanz.
„Insgesamt wurden über 700 Personen substituiert. Bei 22 Prozent konnte eine befriedigende gesundheitliche, soziale und häufig auch berufliche Stabilisierung erreicht werden“, so Frau Jacobowski. Bei 41 Prozent sei eine Besserung in Teilbereichen zu verzeichnen gewesen, nur bei sechs Prozent habe sich die Situation nicht geändert. 80 Prozent der Menschen hätten bereits eine über zehnjährige Drogenkarriere hinter sich.
„Ziel der Therapie ist es, die meist von mehreren Drogen Abhängigen zu entkriminalisieren und das Krankheitsrisiko zu verringern.“ Fernziel sei die Befähigung der Patienten zu einem drogenfreien Leben. Die Substituierung könne für langjährig Abhängige eine erhebliche Verminderung der Schäden erzielen, gegen den Drogenkonsum als solchen gebe es keine Patenttherapie.
„Die Substanz allein ist nicht ausreichend, entscheidend ist die psychosoziale Betreuung“, ergänzte Elfriede Koller, Vertreterin des Drogenbeauftragten. Das Berliner Modell einer im Einzelfall indizierten Substitution in Verbindung mit intensiver psychischer Betreuung habe sich bewährt. Wer eine solche erhalte, müsse sich das „Medikament“ täglich beim behandelnden Arzt abholen, der einen Teil der psychosozialen Stabilisierung übernehme. Intensive Beratungen fänden durch Drogen- und Aids-Beratungsstellen statt.
„Drogenabhängigkeit ist eine Krankheit, die komplex zu betrachten ist“, sagte Ellis Huber, Präsident der Berliner Ärztekammer, dem Träger des Modells. Zu ihr gehöre auch das Problem der Vereinzelung und Beziehungslosigkeit. Die Krankenkassen sollten die Kosten für die Behandlung genauso voll übernehmen wie bei anderen Beschwerden.
Eine Erweiterung des Substitutionsprogramms ist zur Zeit nicht möglich, obwohl sich unter den etwa 9.000 Drogenabhängigen mehr Interessenten dafür befinden, als Plätze vorhanden sind. „Die 150 Ärzte, die zu einer solchen Behandlung bereit sind, reichen einfach nicht aus“, so Norbert Böhmer, der mit einem Kollegen 14 Abhängige betreut. Die anderen Ärzte wollten sich nicht ihre Patienten durch diese Klientel vergraulen, scheuten das Schreiben der vielen Rezepte und wohl auch die Konflikte. „Wenn einer betrunken zu mir kommt, bekommt er an dem Tag kein oder weniger Polamidon. Da kann es schon passieren, daß die einen wüst beschimpfen oder die Praxis zu verwüsten beginnen.“
Frau Jacobowski forderte daher die Einrichtung eines interdisziplinären Substitutionszentrums. „In einer solchen Institution könnte die medizinische, psychologische und soziale Betreuung an einem Ort geleistet werden.“ cor
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