: Stadt der Gerüchte
Jeder in der beschaulichen schleswig-holsteinischen Kleinstadt kannte die Familie der ermordeten türkischen Immigrantinnen ■ Aus Mölln Bascha Mika
Eine Stadt im Ausnahmezustand. Wut, Angst, Entsetzen, Depression. Gefühle für ein halbes Leben, die sich seit wenigen Tagen austoben, die Leute schütteln und nicht zur Ruhe kommen lassen. In Mölln, der aufgeputzten nordischen Kleinstadt, brannten Sonntag nacht Menschen und Häuser. Jetzt bröckeln die Fassaden.
„Es kotzt mich an, wenn ich höre, daß die Möllner immer gut mit den Türken ausgekommen sind. Das ist absolut verniedlichend!“ Britta steht mit ihren Freundinnen von der Berufsschule vor der Post. Es nieselt. Kein Wetter, um draußen rumzulungern. Doch das spielt im Moment keine Rolle. Eine türkische Frau und zwei Kinder sind ermordet worden. Jeder kannte die Familie, sie lebte mitten in der Stadt. Die Schülerinnen pfeifen auf die Schule und den klammen Wind. „Die Stadt will bloß nicht zugeben, wieviel Rechte es hier gibt“, regt sich die 18jährige Karin auf, „dabei weiß doch jeder, daß es hier sogar schon Messerstechereien gab.“ „Sogar in meinem Dorf mit seinen 104 Einwohnern“, unterbricht eine andere, „gibt es welche.“
Seit Sonntag nacht ist Mölln die Stadt der Gerüchte. Sie schwirren zwischen den Backsteinmauern, brodeln überall dort, wo sich die Menschen begegnen, setzen sich in den Köpfen fest. „Wer war es? Neonazis oder andere Kriminelle?“ Die Nachrichtensperre, die die Bundesanwaltschaft verhängt hat, heizt die Spekulationen noch an. Die vorsichtigen Hinweise an die Medien, daß „in allen Richtungen“ ermittelt werde, bringt die Phantasie der Möllner auf Touren.
Die durch den Brand am schlimmsten betroffene Familie Arslan gehört nicht zu den braven Ausländern, die sich voll ins Möllner Kleinbürgertum integriert haben. Einer der Brüder, Faruk, hatte nicht nur einmal Probleme mit Polizei und Justiz, gilt als gewalttätig, soll in der Hamburger Zuhälter- und kriminellen Szene wichtige Verbindungen haben. Das wissen alle in Mölln. Deutsche und Türken. Und alle haben Angst, es laut zu sagen. Doch hinter vorgehaltener Hand wird es weitergegeben. Ist es nicht doch ein Racheakt speziell gegen die Arslans? Wurde die zweite Brandstiftung, die Nazi-Bekenneranrufe nicht nur als Verschleierung benutzt, auch um Einsatzkräfte zu binden?
Die meisten Türken wollen von dieser Vermutung nichts wissen. „Ich glaube es nicht“, sagt einer der Verletzten aus der Ratzeburger Straße. „Wenn es wirklich persönliche Gründe hätte, warum sollten die Täter dann auch unser Haus anzünden?“ Am Montag war der junge Mann mit der zerschundenen Hand noch wütend. Jetzt sitzt er wie viele seiner männlichen Landsleute in der türkischen Teestube, starrt vor sich hin, beäugt mißtrauisch die Kamerateams und Radioreporter. Auch der parteilose Bürgermeister Joachim Doerfler ist dort: „Es gibt für mich keinen Sinn, als daß hier Extremisten am Werk waren.“
650 Ausländer gibt es in diesem südlichen Zipfel von Schleswig- Holstein; davon 70 Asylbewerber, die dezentral untergebracht sind. Die meisten TürkInnen, etwa 90 Familien, leben seit Jahrzehnten unter den rund 17.000 Deutschen. Sie betreiben einige kleine Geschäfte, Döner-Restaurants und Imbißbuden, der Rest arbeitet in den Fabriken der Umgebung. Mölln war ihr Zuhause. Jetzt schauen sie sich um und müssen sich fragen, was das eigentlich für eine Stadt ist, die sie für ausländerfreundlich hielten.
„Unsere Ausländer waren voll integriert“, beeilten sich alle Deutschen nach der Brandnacht zu versichern. Um das zu beweisen, ging am Montag abend halb Mölln auf die Straße. Vier Demonstrationszüge hat der kleine Ort in drei Tagen auf die Beine gebracht. Daß Mölln nicht Rostock ist, ist nicht zu übersehen.
Das Image der Kleinstadt, in der pro Jahr 50.000 Touristen 280.000mal übernachten, steht auf dem Spiel. Die Zukunft des Ortes, mit seinen 6,8 Prozent Arbeitslosen und Tausenden von Pendlern, liegt im „sanften Tourismus“, versprach jüngst eine Studie. Und jetzt droht das alles kaputtzugehen, die hauptsächlich älteren Urlauber aus Angst fernzubleiben. „Was wir für einen Rückgang haben werden!“ befürchtet der Bürgermeister. Diese Aussicht trieb selbst den Chef der Raiffeisenbank am Montag zur Demonstration. Oder sollte es doch das Mitgefühl mit der Familie Arslan, die drei Menschen verlor, gewesen sein?
Kein Hauskauf für Familie Arslan
Die Arslans lebten seit 1974 in dem weißverputzten Haus in der Mühlenstraße. Das Haus war alt und sanierungsbedürftig wie die gesamte Altstadt bis Mitte der 80er Jahre. Doch dann kam der Segen in Form des Städtebauförderungsgesetzes. Rund 200 Häuser sollten mit Unterstützung durch öffentliche Gelder instand gesetzt werden.
Das wollte die Familie Arslan auch mit ihrem denkmalgeschützten Haus machen. Seit 1988 bemühte sie sich, das Haus in der Mühlenstraße 9 von der Stadt zu kaufen. Doch weder die Schleswig- Holsteinische Sanierungs- und Entwicklungsgesellschaft (SEG), die zunächst das Haus treuhänderisch verwaltete, noch die „WOBAU Schleswig-Holstein“, die später als Sanierungsträger auftrat, reagierten auf die diversen Anfragen der Arslans.
Als die türkische Familie schließlich die schriftliche Antwort der WOBAU in Händen hielt, wurde ihr darin zwar dezidiert vorgerechnet, daß Kaufpreis und Sanierungskosten sich insgesamt auf eine runde Million belaufen würden. Doch mit keinem einzigen Wort wies man die ausländischen Mitbürger darauf hin, daß mindestens zwei Drittel der Instandsetzungskosten durch den Bund und das Land übernommen würden.
Statt dessen stellte die WOBAU in einem Schreiben von Ende Oktober 1991 lapidar fest: „... möchten wir auch weiterhin die Finanzierbarkeit der Gesamtmaßnahme Mühlenstraße 9 ... in Frage stellen“. War es eine Finanzierungsfrage oder paßte die Familie Arslan bloß nicht in die im Zuckerbäckerstil sanierte Backsteinidylle?
Die Stadt, der das Haus noch immer gehört, will dazu nichts sagen und verweist auf die WOBAU. Deren Sprecher Jörn Stübinger wehrt ab: „Für Ausländer setzten wir uns noch stärker ein als für unsere deutschen Bürger. Aber aus verschiedenen Gründen sind wir mit der Familie Arslan nicht zu einer Einigung gekommen.“ Das hätte mit ihrem Ausländerstatus nicht das geringste zu tun. Über die Möglichkeit, Sanierungsgelder zu beantragen, will die WOBAU die Arslans in mündlichen Gesprächen unterrichtet haben.
Am 30.10.1991 bekommt die Familie Arslan wieder ein Schreiben von der WOBAU. Darin wird das „... zwischen Ihnen und uns bestehende Mietverhältnis ... fristgemäß zum 31. Oktober 1992 gekündigt“. Denn: „Das Objekt Mühlenstraße 9 soll im Wege der städtebaulichen Gesamtmaßnahmen veräußert und saniert werden.“ Kein Wort mehr davon, daß die Arslans selbst als Kaufinteressenten aufgetreten waren, statt dessen der Rausschmiß. Als die Mühlenstraße 9 brannte, hätten die Arslans das Haus eigentlich schon geräumt haben müssen. Doch die Kündigung hatte einen Formfehler, die Arslans blieben drin. Jetzt hat die Stadt andere Probleme – mit der Ruine.
„Nein, die Täter waren keine Möllner“, sagt der junge Ahmet wie fast alle seine Landsleute. „Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Ich hatte bisher als Türke nie Schwierigkeiten.“ Sicher hätte er sich mal mit Deutschen geprügelt, sicher wären das Skinheads gewesen. Aber das wäre doch normal, oder? Würde doch überall vorkommen. „Ich hab' ja gar nichts dagegen, wenn einer sagt: ,Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein!‘ Das ist doch Nationalstolz und nichts Schlechtes. Zündet man deswegen Kinder an?“
30 Skins und Anzeigen für eine Wehrsportgruppe
Rund 30 Skins soll es in der Stadt geben. Sie treffen sich im Billardsalon und im Jugendzentrum am Schulberg. Doch weder die Türken noch die Deutschen trauen ihnen dieses Verbrechen zu. „Ich und andere halten die Möllner Skins dazu nicht für fähig“, meint Ulrich Nehls, Sozialarbeiter und SPD-Politiker. Wie der Leiter vom Jugendzentrum, Klaus Wenderholm, sieht er eine „diffuse Formation“, doch keine „Kommandostruktur“. Auch dem einen stadtbekannten Neonazi trauen sie das Verbrechen nicht zu.
Die Polizei, die von sich behauptet, die Szene absolut im Griff zu haben, sieht es ähnlich. Auch wenn Reps und DVU bei der letzten Landtagswahl zusammen auf 10 Prozent gekommen sind. Auch wenn vor 8 Wochen eine Scheune abgefackelt wurde, von der das Gerücht ging, sie solle als Flüchtlingsheim eingerichtet werden. Auch wenn sich beim Stadtfest Skins und die rund 150 im Kreis organisierten Antifaschisten eine Straßenschlacht lieferten. Möglicherweise haben die Ordnungshüter auch eine Anzeige nicht wahrgenommen, die am 28.10.92 im Möllner Markt, der Anzeigenzeitung, erschien. „Kameradschaft, Disziplin, Ehre, Heimatliebe“, hieß es darin, „Runenkreis sucht sportliche Leute.“ Deutlicher kann eine Wehrsportgruppe wohl kaum nach neuen Kandidaten Ausschau halten. Die Polizei: „In Mölln gibt es keinen richtigen Treff der Rechtsradikalen.“
Kaum daß die Häuser in der Ratzeburger- und der Mühlenstraße brannten, hatte es Bekenneranrufe bei Polizei und Feuerwehr gegeben. Beide endeten mit einem Nazi-Gruß, keiner der Anrufe wurde – wie normalerweise üblich – auf Tonband mitgeschnitten. Das hätte die Fahndung nach den Tätern entschieden erleichtert. Doch auch auf dieses Rätsel hat der Bürgermeister eine Antwort: „Nur wenn man den Notruf 110 oder 112 anwählt läuft ein Tonband mit. Die Bekenner aber riefen über den normalen Hauptanschluß an.“
Saida, Rowena und Denis sitzen in Saidas Zimmer in der Mühlenstraße. 100 Meter entfernt ist die Nummer 9. Rußige Mauern, ausgekohlte Fensterhöhlen, vor der Eingangstür Blumen, Kränze, Kerzen. Leute bleiben stehen, ihre Augen tasten die Fassade des entbeinten Hauses ab, sie unterhalten sich flüsternd. Hier lebte die Familie Arslan. Urgroßmutter, Großmutter und -vater, zwei Söhne mit ihren Frauen und vier Kindern. Ayshe Yilmaz, eine Nichte der Oma, war zu Besuch. Heute sollte sie in die Türkei zurückkehren. Das wird sie an diesem Freitag auch nach wie vor. Als verkohltes Bündel in einer Holzkiste. Wie die 51jährige Bahide Arslan und die 10jährige Yeliz kam Ayshe in den Flammen um. Sie war 14. Genauso wie Saida aus Serbien, Rowena aus Albanien und Denis aus der Türkei. „Yeliz war so klein“, murmelt Saida, „sie sollte nicht dafür bezahlen müssen.“ „Zu Hause haben wir überlegt“, erzählt Rowena, die als Flüchtling nach Deutschland gekommen ist, „ob unsere Gardinen lang genug sind, um sich auf die Straße herunterzulassen. Und ich will jetzt immer im Schlafanzug schlafen, um sofort rausrennen zu können.“ Denis' Eltern sind mit den Arslans befreundet. Seit Tagen zerbrechen sie sich den Kopf darüber, warum die deutschen Nachbarn so spät reagiert haben. „Die Kinder haben doch geschrien, aber die meisten Deutschen sind erst gekommen, als schon die Feuerwehr da war.“
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