: Honecker doch bald in Santiago?
■ Am vierten Prozeßtag setzt das Gericht eine weitere medizinische Untersuchung des Hauptangeklagten an
Berlin (taz) – „Das ist ja wie in der Schule“, beschwert sich der Vertreter der Nebenklage, Rechtsanwalt Ploeger. Der Mann, der noch immer daran zweifelt, daß es sich bei dem Angeklagten im Moabiter Gerichtssaal wirklich um den ehemaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR handelt, ist für sein Mitteilungsbedürfnis schon gerichtsbekannt. Wie früher mit den Lehrern muß er sich jetzt mit Richter Bräutigam streiten, wann er endlich drankommt: Immer will er, nie darf er.
An die Schule erinnerte gestern, am vierten Prozeßtag, auch die Begründung des Mitangeklagten Hans Albrecht, der eine halbe Stunde zu spät erscheint und so die erste Prozeßunterbrechung verursacht: „Die S-Bahn hatte Verspätung“. Von Anfang an dabei ist Erich Honecker. Der aber kann nach einer Stunde Verhandlung nicht mehr folgen, Pause. Kurz vor zwölf – Honecker hat einen zweiten Schwächeanfall – wird der Prozeß vertagt.
Kein verändertes Bild im Honecker-Prozeß. Es wird nicht einfach werden, zur Sache zu kommen. Ein Antrag der Honecker- Verteidigung auf Aussetzung der Hauptverhandlung, eine Besetzungs- sowie eine Zuständigkeitsrüge bestimmen den vierten Prozeßtag. Begründung des Aussetzungsantrages: 68 Bände mit Ermittlungsergebnissen, insgesamt 13.000 Seiten, wurden der Verteidigung erst am 5.November, unmittelbar vor Prozeßbeginn, zugänglich gemacht. Eine angemessene Vorbereitung der Verteidigung, so Nicolas Becker, sei damit nicht gewährleistet. Auch in anderen Mammutverfahren, etwa dem coop-Prozeß, habe die notwendige Zeit zum Aktenstudium zu einer Aussetzung des Verfahrens geführt. Für einhundert Bände seien damals drei Monate Unterbrechung gewährt worden. Becker beantragt dreißig Tage.
Die Besetzungsrüge bezieht sich auf den Beisitzenden Richter Abel. Laut ursprünglichem Geschäftsverteilungsplan hätte an seiner Stelle, so die Honecker-Verteidigung, Richter Fred Schmidt als Beisitzer fungieren müssen. Anwalt Ziegler trägt, diesmal in Form einer Zuständigkeitsrüge, die bereits beim Befangenheitsantrag erhobenen Vorbehalte gegen die gesamte Kammer vor. Die Verteidigung der anderen Mitangeklagten schließt sich an.
Doch in der Frage der Aussetzung des Hauptverfahrens werden unterschiedliche Verteidigungsstrategien erkennbar: Die Vertreter der Angeklagten Keßler und Streletz wollen keine Unterbrechung. Beiden Angeklagten geht es gesundheitlich besser als Honecker. Die Verteidigung räumt zwar ein, mit der Sichtung der spät eingegangenen Aktenberge ebenfalls überfordert zu sein, signalisiert aber, in Erwartung eines längeren Prozesses gegen ihre Mandanten, Kooperationsbereitschaft mit dem Gericht. Verteidiger Streletz: „Wir wollen schnell zur Sache kommen.“ Das Gericht vertagt die Entscheidung.
Ob Honecker je zur Sache kommen muß, bleibt weiter fraglich. Der Antrag, das Verfahren gegen den Ex-Staatschef aus gesundheitlichen Gründen einzustellen, wurde gestern zwar nicht entschieden; dafür kündigt Bräutigam für kommende Woche die nächste gerichtsmedizinische Untersuchung Honeckers an. Kommentar Becker: „Die Zurückstellung der Entscheidung und die Ergebnisse der nächsten Untersuchung, das läuft aufeinander zu.“ Auf die Frage, ob die Verteidigung für den Fall einer Haftverschonung Aufenthaltsorte für Honecker benennen könne, meint Becker, es gehe jetzt nicht mehr um Haftverschonung, sondern um Einstellung des Verfahrens: „Die Adresse Erich Honeckers nach der Haftentlassung wäre dann Santiago.“ eis
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