: Violetta hinter den Spiegeln
Besuch in der Kinder-Aids-Station eines Moskauer Krankenhauses/ Versuch eines Portraits von einem siebenjährigen, von der Familie verlassenen Roma-Mädchen ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Violetta heißt eigentlich gar nicht Violetta. „Und wie sie richtig heißt, werden Sie nie erfahren“, verkündet uns schadenfroh Valentina Wassiljewna, die Abteilungsleiterin der Moskauer Kinder- Aids-Station in der Zweiten Städtischen Infektionsklinik auf den Falken-Bergen. Uns ist das auch piepegal. Denn erstens erscheint uns der Name für die siebenjährige Patientin angemessen, und zweitens interessiert uns gerade etwas anderes vielmehr: Violetta weint.
„Du bist doch kein Tier!“ schreit sie die vergnatzte, grün- weiß-bemützte Ärztin Natalja Borisowna wiederholt an und knufft sie in das verglaste Eßzimmer. Mit den dunkelblonden, von poppigen Spangen in ein Schwänzchen gewundenen Härchen, grünen Glasohrringen, einem Jeans-Trägerrock, dessen Latz Donald Duck ziert, rosa Nicky, rosa Strumpfhosen und weißen Turnschuhen nimmt sich die Kleine durchaus arriviert für ein Moskauer Kind aus. Für Violetta gibt es von den hier über sie waltenden Kräften allerdings kein Entrinnen. Erstens wegen der Schilder und zweitens wegen ihres Mangels an Eltern.
Das Schild auf dem Treppenabsatz verkündet: „Das Überschreiten der Abteilungsgrenzen seitens der Kranken ist kategorisch verboten.“ Was Violettas Eltern betrifft, so sind sie Roma und haben sich seit ihrer Überweisung aus einem ukrainischen Krankenhaus vor anderthalb Jahren nicht mehr nach ihr erkundigt. „Offenbar hat sie die Krankheit zu Tode erschreckt“, erklärt uns Valentina Wassiljewna.
Außer dem Fotografen Wolodja begleitet mich auch die Halbungarin Klara, um gegebenenfalls zu dolmetschen. Violetta stammt aus einem ungarischsprachigen Nest in den westukrainischen Karpaten, nahe der Heimat des Blutsaugers Graf Dracula. Als das Kind hier eingeliefert wurde, konnte es kein Wort Russisch. Wolodja hat gleich bei unserem Eintreffen Violetta auf dem Schoß einer US-amerikanischen Christin aus einer Wohltätigkeitsgruppe fotografiert, bald darauf das weinende Kind durch die mehrfach spiegelnden Glastüren des Speisezimmers. Nun haben wir einen doppelten Skandal: Die Tierhaftigkeit des Menschen mißt sich offenbar an seiner Bereitwilligkeit, sich fotografieren zu lassen.
„Was wollen Sie überhaupt mit diesem Kind, Sie sollten lieber über unsere junge Familie berichten“, hatte uns Valentina Wassiljewna am Telefon gesagt und auf die zur Zeit einzigen Mitpatienten, eine Mutter mit Söhnchen, angespielt. Für den Besuch bei Violetta forderte sie 100 Dollar „für das Mädchen“, und als ich spaßeshalber fragte, was denn „unsere junge Familie“ so koste, antwortete sie ausweichend: „Die haben feste Tarife.“ „Bei uns dürfen nur die Eltern die Erlaubnis zum Fotografieren der Kinder geben, und weil Violetta keine Eltern hat, erlaubt das überhaupt niemand“, versucht sie nun den Preis noch einmal in die Höhe zu treiben.
Mit zorngedunsenem Gesicht und verschränkten Armen tritt uns auch Natalja Borisowna gegenüber, die Violetta vorhin eine Lektion erteilt hat. „Violetta nennt diese Frau ,Mama‘ und wird von ihr manchmal sogar mit nach Hause genommen“, erklärt Valentina Wassiljewna: „Wenn so ein Geschöpfchen ohne Eltern bei uns landet, dann entwickeln wir eine Art von professionellem Egoismus in bezug auf das Kind.“ Wir stimmen dem Terminus voll zu.
Fünf Minuten lang schweigen wir die ärztliche Phalanx an, dann bricht das Eis. Unsere großen Plastiktüten mit Geschenken für Violetta und das Söhnchen ziehen allzu begehrliche Blicke auf sich. Von Geld ist nun nicht mehr die Rede, und die Abteilungsleiterin beantwortet sogar Fragen. Zur Zeit sind in Rußland 290 aidskranke Kinder registriert, 34 wurden von ihren Müttern infiziert, drei bei Bluttransfusionen und der Rest aufgrund von unhygienischen Verhältnissen in Krankenhäusern.
Violetta ist eines von 50 infizierten Kindern, die hier betreut werden. Die meisten leben allerdings nicht ständig in der Klinik und auch nicht in Moskau, sondern kommen, mal für eine Woche, mal für einen Monat, zur Behandlung. Alle bekommen hier die notwendigen Medikamente, einschließlich AZT, mit auf den Heimweg. „Über die Anwendung in abgelegenen Dörfern und die Lebensführung der Kinder – oft in überfüllten Massenunterkünften – können wir allerdings nicht wachen“, sagt Valentina Wassiljewna. „Viele der Kinder gehen in der Provinz zur Schule, wo man von ihrer Krankheit nichts weiß.“ Auch in Moskauer Schulen haben Kinder aus der Klinik bisher keine Chance. Violetta wurde mit einer unspezifisch verlaufenden Lungenentzündung überwiesen. Seit dem Säuglingsalter hat sie viele Hospitäler durchlaufen. Wassiljewna vermutet dort auch die Quelle ihrer Infektion.
Das Auseinanderdriften der ehemaligen UdSSR-Republiken trug dazu bei, die Spuren dieses Falles zu verwischen. Violetta, so meint die Abteilungsleiterin, verfüge über einen „verminderten Intellekt“. Als wir nach dem Grund dieser Annahme fragen, antwortet sie: „Das sind die Konsequenzen der vielen Folgeinfektionen und der Intoxikation. Ununterbrochen nimmt das Kind eine Masse von Medikamenten. Und wir wissen nicht immer, ob wir ihr damit etwas Gutes tun.“
Violetta gedeiht in diesem Ambiente vorläufig stabil. Für ihr Alter sehr zierlich, aber auf eine vierschrötige Art und Weise auch muskulös, packt sie im Spielzimmer unsere Geschenke aus. Vergebens waren unsere Befürchtungen, die Barbie- Puppe erweise sich angesichts ihrer provinziellen Herkunft als unangemessen. „Barba!“ prustet Violetta angesichts des Geschenkes begeistert los. Und konstatiert andächtig: „Richtige Tittchen!“ Danach beginnt sie unverzüglich, die Schönheit zu kämmen. Andere Puppen hat sie offenbar nicht.
Das quecksilberige Stehauffrauchen will seine Muttersprache einfach nicht mehr erkennen, und auch die Fragen nach Verwandten schmettert sie erst einmal wehrhaft ab: „Woran erinnerst du dich, vielleicht an die Großmutter?“ fragt Klara. „Oi, tütärätätä!“ kommentiert Violetta, ausdrucksvoll mit den Augend rollend, und bedeutet uns, daß sie darüber lieber nicht reden möchte.
Und dann, ein wenig später, mit Hilfe der von uns mitgebrachten Malbirnen, gibt sie doch ein klein wenig von sich preis. Da waren Schiffe, meistens blaue, und einmal ist Violetta mit Mama Tanja auf einem solchen Schiff gefahren. „Und wie war das Zuhause?“ forscht Klara nach: „Ein kleines Dorf und dort viehiehiele Spielsachen, ein Schwesterchen im Kinderwagen, auch Kater sind dort hingekommen“, entspricht Violetta der Nachfrage. „Ja doch!“ brüllt sie, als wolle ich ihr nicht glauben. Sie zeichnet eine „schreckliche Katze“ und sagt plötzlich: „Vor der fürchte ich mich, huhuhuhuhu!“ Kratzig und krallig, so nehmen sich auf ihren Papierbogen Tiere, Menschen und die Sonnen-Schildkröte mit ihrenden stechenden Extremitäten aus.
Violetta kennt kein Lied. Die neue Sprache ihrer Umgebung hat gerade jenes Stadium bei ihr erreicht, in dem eine Unmenge von Worten und Begriffen an die Oberfläche sprudeln und sich den Platz in dem kleinen Mund streitig machen. Schnell eignet sie sich unter unserer Ägide die Namen der Farben an und fragt, wohin sie was zeichnen soll – aus der taktischen Erwägung, daß es besser ist, schon im voraus in Erfahrung zu bringen, was von ihr erwartet wird. „Will sie einmal in die Schule gehen?“ „Nein, das werden wir nicht tun“, vermerkt Violetta entschieden, und dann fügt sie erklärend hinzu: „Da sitzt ein schreckliches Igelchen: huhuhu!“ Kein Ausruf, der nicht von burlesken Gesten begleitet würde.
Selbst für ein siebenjähriges Mädchen ist Violetta ungewöhnlich kokett. Immer wieder wedelt sie wie eine kleine Äffin mit dem Hintern und verkündet: „Was für ein Popochen!“ Alle sieben Minuten zieht sie ihre Schlüpfer hoch und fragt: „Sind die mir nicht wirklich knapp?“ Und unwillkürlich drängen sich ein paar Fragen auf: Testet sie, wie alle Kinder dieses Alters, einfach aus, wieweit sie gehen kann? – Oder hat sich das Mädchen mit derartigem Verhalten einmal Wohlwollen erkauft? Will sie deshalb von dem alten Zuhause nichts mehr wissen?
„Die Nase, die Nase!“ mit dem Aufschrei kommt Natalja Borisowna ins Zimmer gelaufen: „Wo ist dein Taschentuch?“ „Im Krankenzimmer“, kräht Violetta ausweichend. Und wo sollte es sein? Da! Triumphiert die Kleine und holt einen kleinen Rotzfetzen hinter dem Rocklatz hervor. Richtig! nickt die Ärztin besänftigt, nur sollte es nicht so eins sein, sondern ein richtiges! Sie küßt die für die Beschaffung adäquater Taschentücher offenbar verantwortliche Violetta zum Abschied demonstrativ auf den Mund. Mit einem clownesk rotverschmierten Mäulchen bleibt die Kleine allein mit uns im Spielzimmer. Das ist geräumig, mit Turngeräten und einer Rutsche versehen. Spielzeug gibt es hier allerdings tatsächlich kaum. Mütter sind in Violettas Leben: Mama-Tanja, Mama-Doktor und plötzlich auch Klara und ich. Die Reihe ist beliebig verlängerbar.
„Was willst du werden, wenn du groß bist?“ „Ins Kino“, antwortet Violetta gut verständlich und produziert ein Wortgebilde, daß verwaschen nach „Schauspielerin“ klingt. Auf meine Feststellung, zur Filmschauspielerin habe sie tatsächlich Talent, erfolgt ein selbst für dieses demonstrativ lustige Kind ungewöhnlich lärmender Freudenausbruch: „Ho, ha, ho, ha!“ Man merkt, daß Violetta gern organisiert. Kürzlich hat sie sich unbeliebt gemacht, weil sie die Puppe einer Mitpatientin nebst Kleid unter dem Wasserhahn wusch. Jetzt räumt sie betulich ihre neuen Sachen in verschiedene Plastiktüten und führt uns in ihr Schlafzimmer.
Hier gibt es keine Vorhänge, aber sechs Stahlgitter-Bettchen, von denen nur eines bezogen ist. Hier also befindet sich Violettas Kukucksnest, über das sie allein nicht hinausfliegen kann. Da liegt das vergitterte Schiff vor Anker, in dem sie nachts auf Reisen geht, hier, wo sie ihre Verlassenheit und ihre Gefangenschaft spürt und wo die Wände spitze, stechende Ohren haben. Hier fürchtet sie sich vor der schrecklichen Katze – aber noch nicht vor der Krankheit, die ihr das alles eingebrockt hat.
„Bye bye“, ruft uns routiniert die im Umgang mit Wohltätigkeitstouristen geschulte Violetta nach. Und dann bittet sie mich, schon am anderen Ende des Ganges, noch einmal zurück: „Baba, mach daß die Tittchen richtig sitzen, und nicht auf dem Rücken!“ Da steht sie gebeugt. Mit solidem Hausfraueneifer und viel Kraftaufwand müht sie sich ab, Barbie wieder ihr Mieder-Top mit den Büsten-Schalen zu verpassen – die Beine energisch auf den Linoleumboden gestemmt, so verquer wie jedes normale Kind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen