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SanssouciNachschlag I

■ "Zeitzonen" (attacca)

Die Schönbergsche Zwölftontechnik entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ins Extreme weiter: Nicht nur die Tonhöhen, sondern auch alles andere, was sich in Parametern bezeichnen ließ, wurde in Reihen organisiert. Die „serielle Musik“ entstand, wo jeder Ton zum einzelnen Ereignis, punktuell wurde.

Stockhausens Ensemblestück „Kontra-Punkte“ nahm sich dieses Phänomens an und erwählte ein Fortschreiten von punktuellen Tönen zu Klanggruppen, die sich besonders durch die Instrumentation als solche kennzeichnen, zum Formprinzip.

Im Kammermusiksaal des Schauspielhauses eröffnete am Dienstag abend „attacca berlin“ unter der Leitung von Konstantia Gourzi ein Konzert mit dieser Komposition Stockhausens aus den Jahren 1952/53. Ein frühes Stück Nonos, „canti per 13“, von 1955 folgte, eine Komposition, die ebenfalls noch seriell organisiert ist, aber bereits in freiere Zonen vordringt. Tonrepetitionen sind nicht nur zugelassen, sondern werden bisweilen fast motivartig exponiert. „attacca berlin“ spielte beide Stücke recht ordentlich und partiturnah, umging nur leider die meisten leisen Töne; mag sein, daß sich besonders bei Nono das Ensemble den von Natur aus lauten Blechbläsern anschloß oder aber Konstantia Gourzi der alten Idee eines „frischen Jugendwerks“ frönte.

Drei Vertonungen von Shakespeare-Sonetten des gleichzeitig mit Hanns Eisler aus den USA in die DDR zurückgekehrten Komponisten Paul Dessau vervollständigten die erste Hälfte des Programms. Annette Ruprecht sang die Sopran-Solopartie, die von einem filigranen Ensemble begleitet wird. Dessau gelang in dieser Musik einiges an dankbarem Instrumentalsatz, wohingegen die Stimme recht virtuose Passagen zu meistern hat – was Annette Ruprecht auch problemlos vollführte – die ihr aber zum Klingen kaum Zeit lassen.

Nach der Pause folgte ein Exkurs in die Instrumentationskünste. Der freche Berio hatte 1964 seinen so ernsten Kollegen eine Reihe von Volksliedbearbeitungen vor die Ohren geschleudert, deren überquellende Lebensfreude das scheinbar konventionelle Material mehr als vergessen machen. Anna Clementi interpretierte die Mezzosopran-Partie mit umwerfender Bühnenpräsenz und größtem Elan und riß so nicht nur die Dirigentin und das Ensemble, sondern auch das Publikum mit. Einzelne stimmliche Schwächen konnte man ob dieser mitreißenden Darstellung nur überhören. Am Schluß des Konzerts stand Tristan Murails „Treize oucleurs de soleil couchant“ (Dreizehn Farben der untergehenden Sonne). Ein altes Thema also, zu dem Murail Farbkombinationen als Instrumentationskünste einfielen. Aus der „wahren Harmonie“, nach der er sich gemeinsam mit seinem Lehrer Messiaen sehnt, wurde mehr Harmonie denn Wahrheit, so daß das Stück leider ob mangelnder Schärfe, die sich am Anfang versprochen hatte, in leichte Langeweile abglitt. Insgesamt aber war's bereits ob der seltenst zu hörenden Kompositionen ein überzeugendes Konzert, von dem man sich Fortsetzungen wünscht. Fred Freytag

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