: Rassismus - kein Privileg der Deklassierten-betr.: "Billige Schaumschlägerei", taz vom 21.11.92
Betr.: „Billige Schaumschlägerei“, taz vom 21.11.92
Ich finde es mehr als fragwürdig, wenn Eberhard Seidel-Pielen zur Lösung der rassistischen Gewalttaten eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten vorschlägt. Implizit wird damit ja unterstellt, daß Menschen ab einer bestimmten Einkommensgruppe nicht rassistisch sind. Klären müßte Eberhard Seidel-Pielen nur noch, ab wieviel DM mensch weniger beziehungsweise gar nicht mehr rassistisch ist. [...]
Richtigerweise spricht Eberhard Seidel-Pielen davon, daß der Rassismus kein Randphänomen ist, sondern den Kern unserer Gesellschaft betrifft. Von daher verwundert es mich, daß er in seiner Analyse den Kern geradezu ausklammert und die Gewaltwelle nach seiner Meinung alle Kennzeichen einer sozialen Bewegung trägt. Wie viele SozialwissenschaftlerInnen interpretiert Eberhard Seidel-Pielen als sogenannter Rechtsextremismuskenner Rassismus vor allem als Reaktion der Zukurzgekommenen, die ihre Frustration jetzt in Gewalttaten ausleben. Diesen „deklassierten Menschen“ soll nun das Vorteilhafte an einer pluralistischen Einwanderungsgesellschaft erklärt werden. Diese These von den Vorteilen leidet daran, daß sie genau dem am unmittelbar eigenen Vorteil ausgerichteten Denken verhaftet bleibt. Das heißt, die Tatsache, da ich von der Existenz anderer Vorteile habe und darum für sie bin, ist nicht weniger rassistisch, als daß ich ihnen feindlich gesonnen bin.
Dadurch, daß Rassismus oft nur auf die „deklassierten“ Menschen projiziert wird, wird der Rest der Gesellschaft freigesprochen, und somit bleibt natürlich auch das Denken über eigene rassistische Handlungs- und Denkweisen aus. Es sollte vielmehr darüber nachgedacht und untersucht werden, inwiefern die Produktion von Stimmungen und Affekten, die entsprechende Handlungen möglich machen können, zur Eskalation des alltäglichen Rassismus beitragen. Gerade Medien, Reden von Politikern, wissenschaftliche Texte, Schulbücher etc. spielen eine wichtige Rolle für die massenhafte Verbreitung und Stabilisierung rassistischen Denkens und Handelns. Da unsere politischen, wissenschaftlichen und ökonomischen Eliten besonders leichten Zugang zu den Medien haben, sind sie im allgemeinen auch diejenigen, die für die manchmal subtile, indirekte aber auch direkte (Vor-)Formulierung von Rassismus verantwortlich sind. Das, was viele in der Gesellschaft denken, führen die Jugendlichen aus. Das heißt, es bedarf sogenannter Hinweisreize (B. Rommelspacher), um den frustrierten Jugendlichen unbewußt oder bewußt zu signalisieren, daß Gewalt als Lösung erwünscht, erwartet und auch akzeptiert wird (zum Beispiel Rostock). Das öffentliche Klima, die Hetze gegen Asylbewerber sowohl in den Medien als auch in den Politikerreden, sind solche Hinweisreize. Diese vermitteln den Jugendlichen: Ihr könnt oder Ihr sollt so handeln. Die Ausgrenzung und Gewalt gegen andere ist immer ein wesentliches Moment des Arrangements mit den herrschenden Verhältnissen!
Mensch sollte zum Beispiel den realen Interessen an der Ausbeutung anderer Länder und am Erhalt des eigenen Wohlstands, den mensch nicht mit anderen teilen möchte, viel mehr Aufmerksamkeit schenken, um Rassismus zu verstehen. Denn dieses Interesse eint die Mächtigen sehr wohl mit den weniger Mächtigen hierzulande.
Ich finde es wichtig, Rassismus nicht nur als Symptom für irgendetwas anderes (zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot etc.) zu begreifen, denn rassistische Ideologien werden von den Menschen nicht stets „neu“ erdacht; in aller Regel wird auf alte Denkangebote zurückgegriffen. Hier muß eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit ansetzen, die zum einen nicht die europäische, westliche Lebensweise als Maß aller Dinge darstellt und zum anderen Vorurteilen und Anschauungen über „Fremde“ entgegenarbeitet, denn nicht nur negative, auch positive Urteile und Pauschalierungen werden dem einzelnen Menschen nicht gerecht. Idealisierung wie Abwertung legen die Menschen fest und nehmen ihnen Raum für individuelle Entwicklungs- und Ausdrucksmöglichkeiten.
Öffentlichkeitsarbeit ist ebenfalls dringend notwendig, um die Zusammenhänge zwischen den Flüchtlingsbewegungen und unserem Wohlstand aufzuzeigen, denn nach wie vor leben wir auf Kosten der sogenannten Dritten Welt. Es muß klargestellt werden, daß realistische Lösungen zur Verbesserung der Situation in der sogenannten Dritten Welt immer darauf hinauslaufen, einschneidende Veränderungen in unseren Verhältnissen vorzunehmen, die auch unser gegenwärtiges materielles Lebensniveau in Frage stellen würden.
Solange aber Rassismus mit all seinen Auswirkungen bei uns als Randerscheinung gesehen wird (und zur Lösung eine Geldumverteilung vorgeschlagen wird) und nicht als Baustein unserer Gesellschaft, der als System von Unter- und Überlegenheit in vielen Facetten in unseren gesellschaftlichen Alltag eingreift und von uns allen getragen wird, solange halte ich es mit H.Gremliza, der im Juli 1990 schrieb: „In einem Land, dessen Geschichtsschreibern der Verlust des Arbeitsplatzes und Mieterhöhungen immer als entschuldigende Begründung für Rassismus und Pogrome gegolten haben und noch gelten, darf man sich auf alles gefaßt machen.“ Peter Konrad, Hannover
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen