: Grenzen auf fürs Euro-Chaos
Der Binnenmarkt für VerbraucherInnen ist nicht in Sicht/ PendlerInnen müssen sich weiterhin zwischen den Grenzen durchwursteln ■ Aus Aachen Bernd Müllender
Zöllner? Abgeschafft. Grenzhäuschen? Leer, und eines ist sogar schon abgerissen. In den Fernzügen: kein Bundesgrenzschutz mehr. Auf der Straße: freie Fahrt für freie Europäer.
Die Grenzübergänge sind seit über einem Jahr schon quasi offen, erkennbar nur noch an den verwaisten Zollstationen und den trotz Europa auch weiterhin wehenden Landesfahnen. EG-Europa öffnet sich, nicht nur im Dreiländereck bei Aachen. Es sind nur noch wenige Wochen bis zum Binnenmarkt 93, die endgültige Freizügigkeit und Freiheit kommt in der Silvesternacht. Wirklich?
„Ab Neujahr ist das Chaos perfekt. Das Etikett Grenzöffnung ist nichts als Fälschung. Im Prinzip bleibt alles wie vorher.“ Das sagt Peter Boltersdorf, jahrelang engagierter Mitarbeiter in der Aachener Euregio-Beschwerdestelle für grenzüberschreitende Pendler und, weil selbst betroffen, Vorsitzender der Interessengemeinschaft deutsch-belgischer Grenzgänger. Ein Sisyphos-Job, wie er heute feststellen muß: „Jahrelang haben alle von Europa geredet und geredet, aber geändert hat sich nichts.“
Die „fatale, trügerische Meinung der Leute“, so Boltersdorf, besteht in dem Irrglauben, mit Grenzöffnung und Binnenmarkt sei Europa praktisch eins, ab 1.1.1993 gelten überall die gleichen Vorschriften und Bestimmungen. Doch die nationalen Gesetze bleiben – sei es im Steuerrecht vielerlei Art; bei Kranken-, Renten- oder Arbeitslosenversicherung. Kein Land macht sich ernsthaft daran, jahrzehntelang gewachsene Strukturen wegen des Binnenmarktes anzugleichen. Die große Schere zwischen Europareden und der Wirklichkeit vor Ort klafft für die Leute in den Grenzregionen am weitesten auseinander.
Beispiel Rente: Da ist der deutsche Frühpensionär, der in das nahegelegene Holland zieht, egal ob vor oder nach dem Stichtag 93. Die Niederlande verlangen, anders als hier, Sozialabgaben auf die Auslandseinkünfte, in diesem Falle die Pension. Daraus erwächst, mit 65 Jahren, ein Anspruch auf niederländische Volksrente. Aber nur theoretisch: denn wenn sie fällig ist, wird sie mit den schon laufenden deutschen Bezügen verrechnet. Auszahlungshöhe: null Mark, null Gulden, null Ecu.
Oder das Arbeistslosengeld: „Für Grenzgänger bleibt das absolut ungeregelt.“ Kein Inlandswohnsitz – keine Kohle. Und erst recht keine politische Einigung. Gemeinsam bleibt den Europa- Bürokraten nur das jeweils Nationale.
Kommunalwahlrecht für Deutsche in Belgien? Nicht, solange Deutsche hier nur billiger wohnen wollen und keine Steuern zahlen, argumentieren die königlich-belgischen Bürgermeister der Region. Immerhin: In den Niederlanden gibt es das Kommunalwahlrecht für EG-Ausländer, nach mindestens fünf Jahren Wohnsitzaufenthalt.
Spöttisch wird einer wie Boltersdorf, wenn man ihn nach konkreten Erfolgen europäischen Denkens im Dreiländereck fragt. „Doch, das Kulturgedöns“ fällt ihm als erstes ein, „das läßt sich auch wirksam verkaufen“. Bilaterale Schützenvereine, immerhin, und dreisprachige Literaturprojekte, da gebe es überall kleine Töpfe für Zuschüsse. Oder das neue deutsch-holländische Kanalisationsprojekt in Kerkrade und Herzogenrath. „Die Scheiße gemeinsam europäisch zu entsorgen ist ja fast schon so symbolisch wie revolutionär.“
Aber immerhin freier Warenverkehr für alle?! Keine Angst mehr am Zollhäuschen wegen einer Packung Zigaretten zuviel... „Halt“, sagt Boltersdorf, „das gilt doch nicht für die Menschen im Zollgrenzbezirk.“ Hier sollen, allen Ernstes, die erlaubten Mengen beschränkt bleiben, zum Beispiel auf fünf Päckchen Tabak, ein Pfund Kaffee. Übergangsregelung heißt das, weil versäumt wurde, die nationalen Steuersätze aneinander anzupassen. Und es geht um Bestandsschutz für die Händler im Grenzgebiet, die doch vom Preisgefälle immer schon gelebt haben. Die Luxus- Mehrwertsteuer der Belgier (bis 33 Prozent) gilt auch 93 noch – soll dann mal einer versuchen, seinen Benz in Deutschland zu kaufen und dann nach Belgien einzuführen.
Stichwort Sicherheit. Die grenzenlose Konfusion kurz vor der Öffnung aller Schranken gilt auch im Versicherungswesen. EG-BürgerInnen können sich mitnichten überall frei versichern. „Total unausgegoren und absolut undurchschaubar“ sei derzeit die Szenerie, sagt Arno Siemons, freier Versicherungsmakler in Aachen. Wie die drei völlig verschiedenen Rechtssysteme – anglophil, romanisch und deutsch – so harmonisiert werden können, daß es nicht ständig hakt, sei noch das große Rätsel, dessen Lösung sich niemand vorstellen könne.
Und wenn „1993“ versicherungstechnisch, ob 1994 oder 1997, um einige Details detaillierter geregelt ist, werde es, sagt Siemons, in allen Versicherungsarten „eine schier unendliche Tarifvielfalt geben, durch die auch auf Einzelgebiete spezialisierte Fachleute kaum noch durchblicken werden“. Zudem: Die Tarife werden mit einem dichten Bedingungsgestrüpp gekoppelt sein, denn die großen Konzerne haben längst wirksame Schutzwälle um ihre Branche gezogen. Etwa die deutschen privaten Krankenversicherer. In England kosten die Beiträge nur rund die Hälfte, aber – der Krankenversichererverband hat mit den nationalen Gesetzgebern schon ausgekungelt, daß staatliche Zuschüsse nur dann gezahlt werden, wenn verpflichtend eine Altersvorsorge in die Versicherung integriert ist. Die Briten kennen dieses System nicht, folglich sind sie ausgehebelt – nachdem die großen Grenzen geöffnet wurden, entstehen nun viele kleine, nicht sichtbare.
Zehntausende im Grenzland wohnen hier, arbeiten da, haben aus diesem Land einen Paß, in jenem ihre Bleibe. Jeder von ihnen braucht seine individuellen Tricks (je nach Jobart, Versicherungslage, Familienstatus, Arbeitsverhältnis des Partners etc.), um nicht in den Dreiländermühlen zermahlen zu werden.
Der Studentenausweis hilft hier, der nicht nachweisbare Doppelwohnsitz dort, die Steuerlüge hier, die Meldeverweigerung dort, die Autoummeldung auf Dritte hier, Kugeleien um Sozialabgaben und Krankenversicherungspflicht hier und/oder dort... Fachleute, etwa Steuerberater, profitieren vom Wirrwarr mit 250 Mark Honorar pro Stunde. Und mit einem Nachmittag Nachhilfe ist es selten getan.
„Für die Menschen, insbesondere die Pendler, ändert sich 1993 nichts“, sagt Peter Boltersdorf. „Nur wer sich ganz genau auskennt, kann sich, oft mit illegalen Tricks, einigermaßen durchlavieren. Alle anderen kommen unters Rasiermesser.“
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