: Liebe und Verbrechen
■ Ein lange vergessener Roman aus dem Berliner Ghetto der zwanziger Jahre
Kriminalromane sind nicht mein Fall. Mein Buchhändler meinte aber, dies sei etwas Besonderes: ein schon lange vergessener Roman, der im Scheunenviertel der zwanziger Jahre spielt. Und tatsächlich, dieses Buch ist zwar keine Milieustudie, schildert aber doch etwas vom Leben in den dunklen und schmalen Gassen hinter dem Alexanderplatz, wo etwa zu Beginn dieses Jahrhunderts viele Juden aus Osteuropa gestrandet sind.
Klein- und Großkriminelle, Prostituierte und Arbeiterfamilien leben hier. Und fast alle finden sich nach jüdischer Tradition am Freitagabend in der Synagoge zur Sabbatweihe ein. Am nächsten Abend geht's dann genauso vollzählig in die Kneipe nebenan. Etwas holprig, aber mit hintergründiger Ironie wird eine Geschichte von Liebe und Verbrechen erzählt.
Der kürzlich aus Krakau gekommene Nero Pufeles, der im Laufe der Geschichte zu Monsieur Nero Puféles wird, hat es auf die Tochter seiner Vermieterin Rachel Machschewes, einer früheren Leichenwäscherin, abgesehen. Das schöne Kind soll ohne sein Wissen wie zahlreiche andere Mädchen in ein ausländisches Bordell verschachert werden. Der Einbruch beim reichen und verhaßten Hausbesitzer, ebenfalls einem Ostjuden, ist das zweite Verbrechen, um das es geht.
Alles was das Herz begehrt, ist da: viele Böse, ein Opfer, ein Guter und ein Bedauernswerter, der sich schließlich umbringt. Schön sind die Namen der Akteure: Moritz Feigenbaum, Luise Schnalzer, Berthe Butterfaß, Joel Gewürz, Täubchen Melber – Namen, die für uns heute einen wunderlichen Klang haben, ausgelöscht mit jüdischem Leben in den Konzentrationslagern der Nazis. Verdienst des Romans ist es, die Normalität jüdischen Lebens zu beschreiben, einschließlich Verbrechen, Armut und Mißgunst. Im Roman siegt am Ende das Gute. Esther endet nicht im Amsterdamer Bordell, die Einbrecher werden geschnappt.
1923 ist der Roman von Adolf Sommerfeld in Leipzig das erste Mal herausgekommen. 1932 folgte dann eine weitere Veröffentlichung in Berlin. Der Autor, 1870 in Sehroda, Provinz Posen, geboren und jüdischer Abstammung, starb vermutlich 1943. Seine Spur hat sich verloren. Nachkommen, die man um eine Veröffentlichungserlaubnis hätte fragen können, hat der Verlag trotz intensiver Suche nicht gefunden. Sommerfeld war ein Multitalent, das zeitgeschichtliche und belletristische Werke aus dem Italienischen, Französischen und Spanischen übersetzte. Er war Dramaturg, Drehbuchautor und Filmregisseur.
Das handwerklich sauber gearbeitete Buch mit etwas langweiligem Einband ist der erste Band der „Edition Scheunenviertel“, im Verlag Neues Leben. Weitere Kiezgeschichten und Stadtführer über die Gegend sollen folgen. Der Grund: der Verlag ist erst kürzlich in die Rosenthaler Straße, ganz in die Nähe des Scheunenviertels, umgezogen. Bedauerlich ist, daß im Nachwort nichts zur Geschichte des Buches und dem Weg zur Neuauflage gesagt wird. Darauf hätten die LeserInnen ein Recht gehabt. Jürgen Karwelat
Adolf Sommerfeld: „Das Ghetto in Berlin“, Kriminalroman, 160S., gebunden, 24,80 DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen