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Das Ameisenhafte im Menschen

■ Bernard Werbers insektologischer Erstlingsroman

Bernard Werbers Roman „Die Ameisen“ beginnt als Thriller: Eine eher durchschnittliche Kleinfamilie erbt ein sonderbares Haus. Staubig ist es dort, düster, und doch zieht Jonathan Wells mit Frau Lucie, Sohn Nicolas und Hund Quarzazate in das Haus Nummer 3 nach Fontainebleau. Zusammen mit der willkommenen Immobilie hat der verschrobene Forscher Edmond Wells seinem Neffen einen kryptischen Satz (plus Ausrufezeichen) hinterlassen: „Niemals den Keller betreten!“

Was unter Tage, zwischen den labyrinthischen Gängen, vor sich geht, erfährt man erst am Schluß. Und doch läßt sich diffus erahnen: Es muß mit Ameisen zu tun haben. Schließlich findet sich im Klappentext der Hinweis, Bernard Werber interessiere sich „leidenschaftlich für die Welt der Insekten“. Daß der junge französische Autor im Ameisenmilieu bewandert ist, zeigen die Szenen aus der Ameisenstadt Bel-o-kan, die Jonathans Geschichte langsam verdrängen.

Mit mikroskopischem Blick betrachtet Werber den Alltag in der unterirdischen Millionenmetropole: die Königin legt ein Ei nach dem anderen, Ammen kümmern sich um den Nachwuchs, Viehhüterinnen melken Blattläuse, Soldatinnen patrouillieren. Alles verläuft nach Plan, bis eine unbekannte Gefahr den Staat auszulöschen droht. Fortan mischt sich Faktisches mit Fiktivem. Erzählt wird, wie die Ameisen Nr.327 (ein fortpflanzungsfähiges Männchen), Nr.56 (ein Weibchen, gleichfalls fortpflanzungsfähig) und Nr.103683 (eine sterile Arbeiterin) versuchen, Bel-o-kan zu retten.

Werber wagt sich daran, in die Köpfe seiner TierprotagonistInnen zu schlüpfen und auszuspinnen, wie es sich mit Ozellen wahrnimmt und mittels Antennenkontakt und Pheromonen kommuniziert. Die Beschreibung der tierischen Sichtweisen gelingt jedoch nur, wenn der Autor Ameisen lakonisch Ameisen sein läßt und sich hütet, das Tierverhalten bedeutungsvoll aufzuladen. Die Parallelen zu Menschengesellschaften sind eigentlich unüberlesbar, die Übertragungsmöglichkeiten vielfältig. Und doch bemüht sich Werber, Unbestimmtheiten zu eliminieren und den Leseblick immer stärker zu fokussieren, zum Beispiel, wenn die den Ameisenhaufen durchflutenden Pheromone als „globale Informationen“ explizit auf das „weltweite Fernsehen von heute“ verweisen müssen.

Mit Hilfe der zahlreich eingestreuten Weisheiten aus Onkel Edmonds „Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens“, kippt das skurrile Infotainment allmählich in Richtung traditioneller Tierfabel. Insekten entpuppen sich als symbolische Zeichen für die Menschen, die Ameisenstadt als rigider Staatsapparat, ein Modell, an dem die Funktionsmechanismen totalitärer Systeme vorgespielt werden. Werber scheint es überdeutlich vor Augen führen zu müssen: Menschen und Ameisen wuseln in verwandten Welten.

Wenn aus Ansichten unbedingt Einsichten werden sollen, stellt sich beim Lesen nicht selten Unwillen ein. Schließlich möchte man es mit der Formica rufa (Typ Kriegerin) halten, die sich im Dialog mit Onkel Edmond beschwert: „Sie senden zu stark! Meine Antennen sind übersättigt. Hilfe! Ich bin eingeschlossen.“ Michaela Lechner

Bernard Werber: „Die Ameisen“, Verlag Piper, München 1992, 372 Seiten, 44 DM

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