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Von Brotlaibisten und Konservophilen

■ Anatoli Rubinows Enthüllungen über das Moskauer Alltagsleben

Mangel macht erfinderisch und bietet pfiffigen Köpfen viele Möglichkeiten, zu Reichtum zu gelangen. Mit welch archaischer Kraft der kapitalistische Grundmechanismus von Angebot und Nachfrage im Moskau der achtziger Jahre funktioniert, berichtet der Journalist und Erzähler Anatoli Rubinow in seinem Buch „Moskau intim“. Rubinows Feuilletons, unter anderem über „Männer im Dampfbad, Schicke Frauen“ und „Lustige Beerdigungsgeschichten“, entstanden im letzten Jahrzehnt — an eine Veröffentlichung war nicht zu denken. Erst 1991 konnte das Buch in Rußland erscheinen, wo es sogleich zum Bestseller avancierte.

Grotesk und amüsant, abschreckend und liebenswert zugleich erscheint der spätsozialistische Alltag in diesen Texten. Da gibt es zum Beispiel den Tatort Friseursalon: ein Dauerwellenmittel aus der DDR macht Furore bei den Moskauerinnen und wird umgehend zur Mangelware. Das jedoch kann die gewitzte Friseurinnung der Stadt nicht aus der Fassung bringen. Mit Hilfe geheimer Experimente stellt man fest, daß die eigentlich doch so sparsamen DDRler sich verrechnet haben müssen. Man beschließt, daß nur die Hälfte, nein, nur ein Drittel der angegebenen Menge an Chemikalien benötigt wird, um die gewünschte Lockenpracht zu erzielen. Kassiert wird zwar für die volle Dosis, für die Haltbarkeit der Frisur kann auch keine Garantie übernommen werden. Aber was soll's – die Kundschaft wird versorgt, und die Kasse stimmt.

Diese rabiat-geniale Mischung aus Betrug und Marktkonformität scheint nicht nur das Leben, sondern auch den Tod der MoskauerInnen geprägt zu haben. Da macht einer der obersten Leichenbestatter seiner Sekretärin und Geliebten eine Goldgrube in Gestalt eines Blumenladens zum Geschenk. Frische Blumen sind Mangelware. Frische Blumen in der Nähe des Krematoriums aber ... Die Ex-Sekretärin erweist sich des in sie gesetzten Vertrauens würdig. Die raren Blumen und Kränze werden wieder eingesammelt, sobald die trauernden Hinterbliebenen verschwunden sind, und können auf diese Weise wieder und wieder verkauft werden.

Doch es geht, zumal auf dem Friedhof, nicht nur um das optimale Recycling gefragter Güter. „Jeder normale Mensch weiß, daß man auf dem Friedhof Bestechungsgelder zahlen muß und dabei nicht knauserig sein darf.“ Denn sonst kann es der Trauergemeinde passieren, daß sie samt Sarg und Blumen wieder umkehren muß, weil das Grab nicht fertig ausgehoben ist. Schaufeln kaputt, zu viele Tote, Erde gefroren, Arbeiter dem Trunk hingegeben – der möglichen Begründungen gibt es viele. Und alle, alle verflüchtigen sich, hat erst ein angemessener Geldbetrag den Besitzer gewechselt. Da taut die Erde, und die Arbeiter sind jäh wieder nüchtern.

Es nimmt kaum wunder, daß die Lebenden wenigstens beim Einkaufen versuchen, die Verluste gering zu halten, und nach dem Motto „Jeder sein eigener Verkäufer“ zur Selbsthilfe gegen betrügerische Verkäuferinnen schreiten. Besonderer Beliebtheit bei den KonsumentInnen erfreuen sich deshalb die Selbstbedienungsläden. Hier entfalten sich Phantasie und kreatives Potential des Volkes. Besonders pfiffig: die Brotlaibisten. Raffiniert nutzen sie die Tatsache, daß in den Supermärkten kein Brot verkauft wird, sie also mit einem – ausgehöhlten – Brotlaib unter dem Arm die mißtrauischen Verkäuferinnen unbehelligt passieren können. In diesen „Brotrinden-Geheimkoffer“ packt nun der entschlossene Brotlaibist seine Tagesration an Lebensmitteln und entschwindet unerkannt.

Geschichten — eine unwahrscheinlicher und realistischer als die andere. Wir erfahren, was es mit dem alten Konservophilen auf sich hat, in dessen Wohnung man 900 gestohlene Konservenbüchsen fand – ausgewählt nicht etwa nach dem Inhalt, sondern nach ästhetischen Gesichtspunkten. Rubinow lüftet die Geheimnisse der Dampfbäder und schildert die nächtlichen Zustände auf den Moskauer Bahnhöfen. Die Prostituierten, die es ja eigentlich gar nicht gab, die aber dennoch das Schicksal des Handels mit dem Westen nicht unwesentlich mitbestimmten, die Alkoholiker, die zum Ausnüchtern in den „Affenkäfig“ der Miliz geworfen wurden: Anatoli Rubinow entrollt ein ungeschöntes Panorama Moskaus, ohne je zu denunzieren. Im Gegenteil: Der heute 68jährige Autor schaut nicht als Fremder auf dieses Treiben, seine Informationen hat er selbst vor Ort gesammelt. Er ist mit den „kleinen Leuten“ bekannt und befreundet und setzt mit seinem Buch ihren Gaunereien, ihrem Einfallsreichtum und ihren Überlebensstrategien ein Denkmal. Das, gepaart mit spöttischem Humor, verleiht dem oft krassen Realismus seiner Texte immer wieder eine spröde Poesie. Sabine Berloge

Anatoli Rubinow: „Moskau intim“. Aus dem Russischen von Petra Barsch unter Mitarbeit von Natalja Pohla, Byblos-Verlag, Berlin 1992, 229 Seiten, 29,80 DM

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