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Ich komme aus St. Petersburg

Autobiographische Erinnerungen an das Geistesleben der exilierten russischen Intelligenz  ■ Von Eva Ostafin

Lina Berberova wird am 8. August 1901 in St. Petersburg geboren, verlebt eine unbeschwerte, idyllische Kindheit und genießt eine bourgeoise Erziehung. Im zarten Alter von zehn Jahren ist bereits die Gewißheit in ihr gereift, daß sie eine Dichterin werden will. Dementsprechend schreibt sie mit Inbrunst Gedichte, hat längst ihre Liebe zu Lermontow und Blok entdeckt, weiß natürlich auch schon deren Größe zu schätzen. So weit, so gut, wenn auch ein bißchen stereotyp. Es ist offensichtlich, daß die Wurzeln all ihrer späteren Leidenschaften in der Kindheit gesucht werden sollen.

Aber dann zimmert die Berberova immer überspanntere Konstruktionen: Kaum ein Mensch begegnet ihr, der nicht irgendwie irgend etwas mit Literatur zu tun hätte. Kaum ein Erlebnis oder Ereignis, das nicht ein Vorbild bei den russischen Klassikern hätte. Da ist die Tante, die das Schicksal Anna Kareninas ereilt. Ein Bekannter des Großvaters ist ganz Oblomow. Andere Haupt- und Nebendarsteller könnten aus Turgenjews „Väter und Söhne“ oder aus Tschechows Erzählungen stammen. Dazu gibt es Krieg und Frieden, Schuld und Sühne immer und überall, gefolgt von einem atemberaubenden name-dropping, das einem alsbald auf die Nerven geht.

Dann naht der Tag der Februarrevolution. Die Berberovsche Familie allerdings hat andere Sorgen: Eine Soiree ist für den Abend geplant, und was soll nur werden, wenn die Konditorei Iwanow das bestellte Eis nicht liefern kann? Dergleichen ist zwar wahrscheinlich symptomatisch für die reale Wahrnehmung bedeutender historischer Ereignisse. Aber letztlich geht es Berberova vor allem um die Entglorifizierung des Revolutionstages – eine Folge ihrer Verbitterung in den späteren Exiljahren. Damit und mit dem großbürgerlichen Ambiente des Elternhauses ist auch zu erklären, warum die Berberova der Ansicht ist, daß „kein Wechsel am Hof erforderlich war, sondern nur ganz allgemein ein stiller Verzicht auf alle Höfe und Fontänen“. Ihre bourgeoise Ignoranz gegenüber den sozialen Mißständen ist nur schwer zu überbieten.

In den Wintern nach der Revolution friert und hungert die Bevölkerung, das geistige Leben hingegen blüht wie nie zuvor: Ossip Mandelstam wird mit seinen Gedichten bekannt, Anna Achmatowa verfaßt ihre lakonischen Verse, Maximilian Woloschin bastelt an seinen impressionistischen Gedichten, Jewgeni Samjatin schreibt seinen utopischen Roman „Wir“, Alexander Blok vollendet sein Epos „Die Zwölf“, und Majakowski gibt seinem Werk „150000000“ gerade den letzten Schliff.

Von alledem findet sich in der Autobiographie allerdings nicht viel. Das Namensorchester summt und brummt zwar weiter. Aber die russischen Klassiker sind nun ersetzt durch Namen, denen die Berberova eine literarische Bedeutung zumißt, die sie schlicht nicht haben. Der Anspruch, um jeden Preis einen linearen, in sich harmonischen Entwicklungsprozeß aufzuzeigen, wird zum Zwang – Berberova fällt es sichtlich schwer, sich einzugestehen, daß sie in dieser Zeit nur am Rande des kulturellen Treibens gestanden hat. Als Blok 1921 stirbt, scheint es im Rückblick, als habe sein Tod das Ende dieser kulturell überschäumenden Epoche markiert, die 1739 mit Lomonossows „Ode auf die Eroberung von Chotin“ ihren Anfang genommen hatte. Noch im gleichen Jahr beginnen planmäßige Repressionen, die bereits ein Jahr später in einer Massenausweisung der Intelligenzija gipfeln.

Die Berberova geht zusammen mit Chodassewitsch zunächst nach Berlin, der damaligen Hochburg der russischen Emigration. Und nun, endlich, wird es wirklich interessant. Es scheint, als würde die Berberova sich ihre Vergangenheit jetzt nicht mehr nur zusammendichten, sondern sich wirklich erinnern.

In Berlin trifft sie auf Pasternak, Ehrenburg, Schklowski, Bely, Ozup. Man geht zusammen ins Theater, gründet einen russischen Schriftstellerclub, verbringt die Tage in Cafés, diskutiert, streitet und dichtet. Die Stimmung ist hoffnungsfroh, denn man lebt in dem Glauben, der Aufenthalt sei nur von kurzer Dauer.

Gorki widmet die Berberova besonders ausführliche Beschreibungen. Er hat sich in Saarow niedergelassen, wo sie ihn oft besucht. Wer Gorkis „Die Mutter“ oder den Okurow-Zyklus gelesen und sich damit schwer getan hat, sieht hier über den Menschen Gorki bestätigt, was er nach den Werken nur geahnt hat. Berberovas Episoden zeigen einen Menschen, der von der Literatur weder Ästhetik noch Phantasie, sondern in erster Linie eine moralische Lektion erwartet. Trotz oder gerade wegen seiner Eigenheiten begegnet ihm die Berberova mit viel Wohlwollen. Unnachsichtiger ist ihre Einschätzung der Zwetajewa, die sie in Prag besucht. Sie macht auf die Berberova „den Eindruck eines Menschen, der ... sich selbst nicht sieht, seine Möglichkeiten im Leben nicht kennt und nicht reif genug ist, sich seiner momentanen und zukünftigen Reaktionen bewußt zu sein“. Wenn man sich das zerrüttete, unglückselige Leben der Zwetajewa vor Augen führt, wirken diese Worte befremdlich. Und wenn es dann heißt : „Ihr Außenseitertum bekundet ... ihre Unreife“, wird klar, woran sich die Berberova letztlich stößt. „Außenseitertum“ ist für sie „das Unglück des unreifen Menschen, der unfähig ist, sich mit der Welt zu vereinigen, mit ihr und seiner Zeit ... in Einklang zu leben“. Für diejenigen, bei denen das nicht so reibungslos klappt, die zweifeln und der Harmonie nicht trauen, hat die Berberova wenig Verständnis. Sie ist zu der Überzeugung gelangt, „daß normale Menschen viel interessanter als die sogenannten anormalen sind, daß letztere unfrei und oftmals stereotyp in den Konflikten ihrer Umwelt agieren, die Normalen hingegen vielschichtiger, freier, origineller und verantwortungsbewußter sind ...“

Diese Lebensphilosophie hat sie vermutlich davor bewahrt, an ihrem Exilantendasein zu zerbrechen – ein Mittel also, um die innere Verzweiflung und Resignation zu bewältigen.

Die Erinnerungen der Berberova an ihre Pariser Zeit enthüllen neben der seelischen Not und der materiellen Armut ihrer Leidensgefährten allerdings noch eine andere traurige Wahrheit: Die massive „Störerfahrung“ (Sloterdijk) des Exils hat eine konservative, konservierende Bewußtseinsstruktur zur Folge, die den EmigrantInnen letztendlich zum Verhängnis wird. Der Abschied von gescheiterten Konzepten fällt schwer. Die daraus resultierende Unfähigkeit, den Stil zu erneuern, führt zu einer „mittelmäßigen, wenig vitalen und uneigenständigen Literatur“, wie die Berberova nüchtern feststellt. Um so größer ist daher ihr Respekt vor Nabokov, dem es gelingt, sich aus der Isolation des Exils zu befreien.

Berberovas Autobiographie selbst ist Zeugnis für das Ausmaß dieser Isolation: Vergeblich sucht man eine inhaltliche Bezugnahme auf Sartre, Camus, Rolland oder Gide. Die Berberova hat nur einen verbitterten Seitenhieb für diese „westlichen Intellektuellen“ übrig. Fassungslos sieht sie, wie diese sich geschlossen hinter das „neue Rußland“ stellen, wo gerade ein „interessantes Experiment“ stattfindet. Die handfesten Beweise der Emigranten für Repressalien und Säuberungsaktionen in ihrer Heimat werden als Fälschungen deklariert oder als bourgeoises Geplapper abgetan.

So gezielt sie die „westlichen Intellektuellen“ übergeht, so ausführlich widmet sich die Berberova dem Emigrantenkreis. Bis auf Gorki und Schklowski, die inzwischen in die Sowjetunion zurückgekehrt sind, befinden sich fast alle, mit denen sie in Berlin ihre Zeit verbracht hat, nun auch in Paris – Berberova gibt ein Who's Who der russischen Intelligenz. Saizew, Samjatin, die Mereschkowskis, Bunin und vielen inzwischen in Vergessenheit Geratenen setzt sie mit ihren Aufzeichnungen ein Denkmal. Die Übersicht wird dabei durch das ausführliche und sorgfältig angelegte Personen- und Sachregister im Anhang erleichtert.

Während des Zweiten Weltkrieges zerbricht dieser Emigrantenkreis. Berberovas Freunde wandern aus, etliche sterben. Sie selbst steht irgendwann allein und mittellos da. 1950 emigriert auch sie schließlich in die Vereinigten Staaten, die für sie der Inbegriff „eines großen, starken, modernen Landes sind, das durch seine Freizügigkeit und Energie“ besticht. Ein Land, in dem sie endlich zur Ruhe kommt und eine Art zweiter Heimat findet.

So sehr man die Berberova auch für ihre „exzessive Diesseitigkeit“ (Herzen), ihren ungebrochenen Lebensoptimismus, ihre Unabhängigkeit und ihren Mut bewundern kann, so sehr vermißt man etwas Brüchiges, einen kleinen Riß an der glattpolierten Oberfläche. Die Andeutung eines Zweifel hätte schon genügt. Statt dessen wird man am Ende des Buches belehrt: „Leiden? Alle leiden. Das dumpfe Tier leidet ... Wenn das Bewußtsein erwacht, werden wir auch mit dem Leid fertig.“ So einfach ist das.

„Ich komme aus St. Petersburg“, eine Autobiographie von Lina Berberova. Deutsch von Christina von Süß. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 608 Seiten, 16,90DM

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