"Ich vergesse nie die Schmerzen"

■ Gesichter der Großstadt: Der türkische Diplomschneider Akif Özcan

Wedding. Deutscher könnte das Wohnzimmer des 54jährigen Türken Akif Özcan nicht aussehen: robuste Schrankwand aus deutscher Eiche, gemusterte Tapete, hellbraune Couchgarnitur und Teppich mit Blumenornamenten. Vergeblich schweift der Blick auf der Suche nach türkischen Erinnerungsstücken durch die gute Stube, in der nichts zufällig herumliegt.

So typisch deutsch die Einrichtung auch ist, so wenig typisch ist der Beruf, dem Akif Özcan nachgeht, für Deutsche: Er ist Diplombeschneider. Seit 32 Jahren schon beschneidet der seit Anfang der siebziger Jahre in Berlin lebende Türke die Vorhaut bei Knaben, die bei dem Eingriff in der Regel zwischen fünf und neun Jahre alt sind. An seine eigene Beschneidung in der Türkei im Alter von neun Jahren erinnert er sich noch gut: „Ich vergesse nie die großen Schmerzen.“ Ursache für die schmerzliche Erinnerung waren ein Beschneider ohne Ausbildung, fehlende Betäubung und der Einsatz eines Rasiermessers. Zwischen Özcans Beschneidung und heute liegen Welten: „Heute geht es bei einer Beschneidung fast wie im OP zu“, sagt er. Gemeint sind die örtliche Betäubung und die sterilisierten Instrumente. Wenn Özcan von dem „kleinen Eingriff“ – so nennt er die Beschneidung – spricht, weiß er genau, wovon er redet.

1959 beendete er in Ankara eine vierjährige Ausbildung als Sanitäter, Krankenpfleger und Beschneider. Den ersten „kleinen Eingriff“ nahm er vor 32 Jahren in einer Kleinstadt im Süden der Türkei vor, wo er auf einer Erste-Hilfe- Station als Sanitäter gearbeitet hat. Trotz der vielen Jahre Beschneidungspraxis in der Türkei, in Berlin und gelegentlich auch mal in Westdeutschland kommt er bei jeder Beschneidung immer wieder ins Schwitzen, und die Aufregung wird sich wohl nie legen, denn: „Man darf nichts falsch machen, weil ja der Penis das wichtigste Organ der Knaben ist.“

Schon das Wort Beschneiden löst bei vielen Deutschen Schaudern aus. Für ihn ist das Beschneiden ähnlich wie ein „Zahnarztbesuch“: mehr Angst als Schmerzen. Deshalb ist es für ihn sehr wichtig, mit den Jungen vor der Beschneidung zu reden. Mit seiner ruhigen, väterlichen Art nimmt er ihnen die Angst von dem Mann „mit dem großen Messer oder der Säge“.

Für den Eingriff braucht er nur wenige Instrumente. Vor dem Beschneiden wird der Penis örtlich betäubt. Dadurch ist die Prozedur weniger schmerzhaft als allgemein angenommen. Mit Hilfe eines kleinen Hakens an einer Schere wird die Vorhaut über die Eichel gezogen, die mit einer Art Klemme geschützt wird. Dann mißt Özcan mit „Fingerspitzengefühl“, wie weit die Vorhaut abgetrennt wird. Nur wenige Sekunden surrt das Elektromesser. Sobald die Vorhaut abgetrennt ist – ohne daß Blut geflossen ist –, wird das Häutchen unter der Oberhaut in zwei Teile geteilt und hinter dem Rand der Eichel mit selbstauflösendem Faden vernäht. Dann noch ein kleiner Verband mit Salbe, und aus dem Knaben ist ein Mann geworden. Ob beschnittene Männer stärkere sexuelle Gefühle haben? Ein verschmitztes Lächeln huscht über sein Gesicht: „Das glaube ich nicht. Das Blut der Südländer ist einfach wärmer und somit die Sexualität stärker. Eine beschnittene Vorhaut ist einfach hygienischer.“

Leben kann Özcan von den „kleinen Eingriffen“, deren Stellenwert er im Leben eines Jungen der Hochzeit, dem ersten eigenen Kind oder dem ersten Auto gleichsetzt, nicht. In Deutschland gibt es im Gegensatz zur Türkei keine reguläre Bezahlung dafür. Früher schenkte man dem Beschneider oft Seife und Handtuch. Seine lachende Erklärung dafür: „Für ein schmutziges Geschäft muß man saubere Hände haben.“ Als „Lohn“ für seine „Honorararbeit“, der er zwei- bis dreimal die Woche nachgeht, erhält er kleine Geschenke. Viel wichtiger ist ihm aber die Ehre, als Beschneider gerufen zu werden.

Obwohl sich Özcan in Berlin eingelebt hat und sich wohlfühlt, schüttelt er den Kopf über die Deutschen, die sich „keine Zeit zum Leben nehmen“. „Deutsche arbeiten wie verrückt.“ Er kann es kaum erwarten, in seine Heimat zurückzukehren. Dort wird er sich bald vollberuflich der Beschneidung widmen können: An der sonnigen Südküste der Türkei, in Antalya, hat er sich seine eigene Praxis eingerichtet, die fast fertig ist. Auch wenn Özcan von sich selbst als von einem „stadtbekannten Gesicht“ spricht und es ihn mit Stolz erfüllt, aus Tausenden Knaben Männer gemacht zu haben, hat er noch einen speziellen Wunsch: Gerne würde er den CDU-Bundestagsabgeordneten Heinrich Lummer wegen seiner „ausländerfeindlichen Äußerungen“ beschneiden. Barbara Bollwahn