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Die Reformgegner haben im Volksdeputiertenkongreß zwar die Mehrheit, aber die Verfassungsänderungen, die Jelzin an ihre Kette legen sollten, haben sie nicht durchgesetzt. Heute geht die Kraftprobe in die nächste Runde. Aus Moskau K.-H. Donath

Jelzin noch einmal davongekommen

Die Parlamentarier blieben gelassen, als am Samstag abend der Sprecher der Zählkommission die Abstimmungsergebnisse bekanntgab, die für das weitere Schicksal der russischen Regierung entscheidend waren. Die Volksdeputierten hatten sich am Vormittag in Wahlkabinen begeben, ganz gegen die Gepflogenheiten des höchsten gesetzgebenden russischen Organs. Das Ergebnis: Jelzin ist noch einmal davongekommen. Vier Stimmen fehlten schließlich an der erforderlichen Zweidrittelmehrheit, um dem Präsidenten seine Sondervollmachten zu entreißen. Insgesamt 690 der 1.040 Volksvertreter hatten dafür gestimmt, daß Jelzin künftig sein Ministerkabinett nur noch mit Zustimmung des Parlamentes ernennen sollte. Auch über die Besetzung der wichtigsten Ressorts wollte die Legislative mehr als nur ein Wörtchen mitreden.

Bei der überwiegend konservativen Zusammensetzung des Kongresses hätte das empfindliche Einschränkungen des Reformkurses bedeutet. Natürlich hatte sich das Ergebnis am Nachmittag auf den Wandelgängen des übervollen Parlamentes im Kreml schon herumgesprochen. 200 der demokratischen Abgeordneten hatten am Freitag dazu aufgerufen, nicht an der Abstimmung teilzunehmen, denn mit den Stimmzetteln könne „Unfug getrieben werden“.

Sieben Verfassungsänderungen standen zur Debatte. Immerhin erreichten drei weniger wichtige die notwendige Zustimmung. Eine von ihnen macht den Ministerrat jetzt nicht nur dem Präsidenten und dem Obersten Sowjet (das kleinere, ständig arbeitende Parlament), sondern zusätzlich noch dem Volksdeputiertenkongreß rechenschaftspflichtig. Artikel 110 hält fest, daß die Regierung weiterhin das Recht zu Gesetzesinitiativen behält. Bisher konnte Jelzin mit Dekreten regieren, die quasi- gesetzlichen Charakter besitzen. Die Regierung sieht darin den entscheidenden Mechanismus, um die Reformen schneller auf den Weg zu bringen.

Das hauchdünne Ergebnis kann nicht über den harschen Widerstand hinwegtäuschen, den die Parlamentarier Jelzins Mannschaft entgegensetzen. Am Freitag hatten sie eine Resolution verabschiedet, in der die Regierungspolitik aufs härteste verurteilt worden war. Darin hieß es: „Die Wirtschaftsreform der Regierung widerspricht in ihren Formen und Methoden den Interessen der Mehrheit der Bürger.“ Zusätzlich forderte die Entschließung Maßnahmen, die der bisherigen Politik eindeutig zuwiderlaufen: Lohnindexierung, Änderungen des Privatisierungsprogrammes und eine Rückkehr zum künstlichen Rubelkurs. Außerdem sollten Auslandsanleihen zukünftig nur noch mit Zustimmung des Parlamentes aufgenommen werden.

Die Entschließung besitzt zwar keine bindende Kraft. Dennoch rief sie Empörung im Regierungslager hervor. Jelzins Wunsch, zumindest den ersten Passus über den „Widerspruch“ zwischen Reform und Interessen der Bürger aus der Entschließung zu streichen, lehnte das Parlament ab.

Entschließung und Abstimmung der Verfassungsänderungen offenbarten, daß viele Abgeordnete des Zentrums mit der rechtskonservativen, kommunistischen und nationalistischen Opposition gestimmt haben. Die nennt sich selbst „unversöhnlich“. Die Zentristen aus der „Bürgerunion“ begreifen sich demgegenüber als die sogenannte „konstruktive Opposition“. In ihr haben sich vornehmlich Vertreter der großen Staatsbetriebe zusammengeschlossen. Obwohl sie eine Fraktion bilden, verfolgen sie dennoch kein einheitliches Interesse, wie die Abstimmungen zeigten. Neben einer Verlangsamung der Reformen verlangen sie, daß einige Minister ausgewechselt werden. Jelzin hat sich zunächst dagegen ausgesprochen, um nicht den Eindruck der Erpreßbarkeit zu erwecken. Womöglich wird er erst nach Ende des Kongresses Umbesetzungen vornehmen.

Die noch ausstehende Ernennung und Bestätigung des Premierministers wird zeigen, inwieweit die „konstruktive“ Opposition um Vizepräsident Alexander Rutskoi und den Vorsitzenden des Industriellenverbandes, Arkadi Wolski, ihrem selbstzugelegten Attribut gerecht wird. Manche spekulieren, das Parlament könnte die knappe Niederlage zum Anlaß nehmen, den verhaßten Jegor Gaidar nicht zu bestätigen. Bisher hatte Gaidar sein Amt nur geschäftsführend inne, da Jelzin ihn per Dekret ernannt hatte. In der Zwischenzeit wurden Wolski und Vizepremier Wladimir Schumeiko als Alternativkandidaten gehandelt. Öffentlich erklärten beide, sie stünden nicht zur Verfügung. Schumeiko war als Wunschkandidat der „Bürgerunion“ im Sommer in die Regierung lanciert worden. Gegen die Erwartungen seiner Klientel hatte er in den letzten Monaten jedoch Gaidars Kurs als den einzig richtigen verteidigt.

Angesichts der Sondervollmachten des Präsidenten spielt der Premier nicht mehr eine so ausschlaggebende Rolle. Sollte Gaidar geschaßt werden, könnte er von anderer Stelle aus die Wirtschaftsreformen dirigieren. Rußlands Regierung ist erst einmal über den Berg. Daß Jelzins Drohungen allerdings beitragen, daß der Kongreß mit Hilfe eines Referendums aufgelöst wird und die Parlamentarier in die Provinz zurückgeschickt werden, bleibt reine Spekulation.

Parlamentssprecher Ruslan Chasbulatow warnte den Präsidenten nach der Abstimmung: „Wenn Sie weiter nach absoluter Macht streben, wird dieser Pyrrhussieg der letzte gewesen sein und zur Zerstörung des Landes führen.“ Chasbulatow ist ein unkalkulierbarer Taktiker. Bei ihm kann man sich nur eines sicher sein: daß er immer mit den Wölfen heult.

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