: Mit nassen Füssen ins gelobte Land
Nacht für Nacht überqueren Flüchtlinge die polnisch-deutsche Grenze an Oder und Neiße/ Das Wort Asyl kommt im Fragebogen des Bundesgrenzschutzes gar nicht erst vor/ Das Geschäft der Schlepper ■ Von Torsten Preuß
Ans Ziel seiner Wünsche kommt nur, wer nicht gesehen wird. Also bewegt sich der Mann lautlos, gebückt und vorsichtig durch das kniehohe Schilf. Wenn die Wolkendecke den Mond freigibt und die beiden Uferseiten in gefährlich hellem Licht erscheinen, sinkt er in die Hocke. Steinruhig sitzt er da. Nur die Augen sind in permanenter Bewegung. Meter für Meter tasten sie das andere Ufer ab. Es ist niemand zu sehen.
Ein Blick auf die Uhr, und er geht zurück, 200 Meter ins Hinterland. Zwanzig bulgarische Männer, Frauen und Kinder sitzen hier ängstlich auf dem nassen, teils gefrorenen Boden. „O.K.“, sagt der Mann, „es geht los.“
Zwei Kilometer flußabwärts blubbert im Aufenthaltsraum des Bundesgrenzschutzes die Kaffeemaschine. Ununterbrochen, die ganze Nacht. Die Mannschaft um den Leiter der Grenzstelle Guben, Dieter Schötz, weiß, daß irgendwo da draußen gerade wieder Menschen aus irgendeinem Winkel des untergegangenen Ostblocks illegal die Grenze überschreiten. Alles, was in seiner Macht steht, wird getan. Seine zwei Streifen sind unterwegs. Diese Nacht wie letzte Nacht und wie die davor. Alltägliche Inszenierung eines grotesken Schauspiels, in dem der Bundesgrenzschutz längst die Rolle des dummen August übernommen hat.
800 Kilometer ist die Wohlstandsgrenze lang, es gibt keinen Zaun, keine Signalanlagen, weder Wachtürme noch Stacheldraht. Die Grenzflüsse Oder und Neiße sind stellenweise so flach, daß auch Kinder durchlaufen können, und an manchen Stellen kaum mehr als zehn Meter breit.
Deutschland ist damit nach allen Seiten und rund um die Uhr für jeden geöffnet. Mit oder ohne Anspruch auf Asyl.
In den ersten neun Monaten wurden 32.700 illegale Grenzübertritte festgestellt. Die Dunkelziffer schätzt man auf 100.000. Dazu kommen 24.491 Personen, die sofort vom BGS aufgegriffen und zurückgewiesen wurden.
„Wer heute erwischt wird, wird morgen zwar abgeschoben, versucht es übermorgen aber wieder“,
sagt ein junger BGS-Beamter aus dem Westen, der seit zwei Jahren „an der Ostfront“ den Illegalen hinterherläuft. Einen Bulgaren hatten sie elfmal erwischt. Der war entweder dumm (weil er immer an derselben Stelle rübergegangen ist) oder gerissen (weil er die Beamten somit von anderen Aktionen abgelenkt hat). Genaueres weiß man nicht, ein zwölftes Mal hat es nicht gegeben.
Im Aufenthaltsraum des BGS stehen auf einem Holztisch drei rote Telefone. Nicht ganz so große wie Ziegelsteine, dafür aber fast so schwer. Vieles hier ist noch aus Vorwendezeiten, erst nach und nach rüstet der BGS auf Weststandard auf.
Über das rote Telefon in der Mitte kommt die Meldung vom polnischen Grenzschutz, daß am Abschnitt 400 gerade 50 Mann die Grenze überschreiten. Zwei Beamte aus der Nachtschicht springen in den olivgrünen VW-Bus und rasen durch das nächtliche Guben direkt zur Neiße.
Am Ufer bleiben sie, halbwegs getarnt, hinter einem Busch stehen. Mit dem Nachtsichtgerät tasten sie Meter für Meter das Gelände ab. Nach fünf Minuten ist alles klar. Die Menschen sind weg.
Sie verstecken sich in Lagerschuppen, Abrißhäusern, Bahnhöfen oder einfach im Gestrüpp am Ufer. Sie warten da, bis ein vom Schleuser vorher an einen bestimmten Ort bestelltes Fahrzeug kommt, sie auflädt und verteilt.
In den Grenzstädten wird der „Aufschwung Ost“ seinem Namen gerecht. Der Transport der osteuropäischen Flüchtlinge bringt Geld in die Taschen. Meistens sind es Taxifahrer, die an den allseits bekannten Stellen in Grenznähe hin- und herfahren und sie aufsammeln. Als Faustregel gilt: pro Kilometer eine Mark, niemals darunter, aber so oft es geht darüber. Die Fahrziele sind meistens die Zentralen Aufnahmestellen für Asylbewerber, wie die in Eisenhüttenstadt.
Vier jugendliche Armenier erzählen in knappen Worten ihre Flucht. Mit dem Bus aus dem Dorf zur russischen Grenze. Von dort rüber nach Polen geschwommen. Dann quer durch Polen mit dem Zug, bis an die deutsche Grenze. Vor zwei Tagen dann sind sie durch die Neiße gelaufen. Sie haben 3.000 Kilometer hinter sich, und in ihren Pässen ist kein einziger Stempel. Wenn sie ihre Geschichte erzählen, sehen sie aus wie Indiana Jones bei einem Diavortrag. Sie sind stolz, daß sie es geschafft haben.
Direkt beim Grenzübertritt wird kaum einer gefaßt. „Das kommt so gut wie nie vor“, meint Günther Schötz. Die größten Erfolge hat der BGS allesamt der tätigen Mithilfe der Bevölkerung zu verdanken.
Das rote Telefon rechts ist das Bürger-beobachten-das-Grenzgebiet-Telefon. Alles, was südländisch aussieht und sich in Gruppen durch Guben und Umgebung bewegt, wird gemeldet. Die meisten der Anwohner waren schon zu Honeckers Zeiten als „freiwillige Grenzhelfer“ mit Telefon zum Denunzieren ausgestattet. Dem BGS kann das nur recht sein, die Greifquote wäre sonst im Promillebereich.
Eine zweite Streife hat eine Gruppe Bulgaren auf dem Weg zur Aufnahmestelle festgenommen. Die sechs Männer, drei Frauen und zwei Kinder verteilen sich auf den Holzstühlen und Sperrmüllsofas in der Zelle der BGS-Zentrale. Als die Gittertür ins Schloß fällt, fangen die Kinder an zu weinen. Leise, in sich hinein. Wer auf der Flucht ist, lernt, nicht aufzufallen.
Bei der folgenden Befragung bekommt jeder einen Fragebogen in seiner Landessprache. Als „Reisegrund“ steht zur Auswahl: a) Besuch von Verwandten, b) Urlaubsreise, c) Geschäftsreise, d) Arbeitsaufnahme. Von der Möglichkeit, Asyl zu beantragen, ist nirgendwo die Rede. Die meisten, die aufgegriffen werden, kreuzen dann auch d) an. Ergebnis: Der BGS schiebt sie gleich wieder ab, nach Polen. Dort warten sie, bis es dunkel wird. Dann kommt Versuch Nummer zwei. Bis es klappt.
Die Grenze zum reichsten Land Westeuropas ist ein magnetisches Feld, das bis in den letzten Winkel des ehemaligen Ostblocks strahlt. Angezogen werden die Menschen, die im nachkommunistischen Chaos keinerlei Chancen sehen. „Nichts ist besser geworden, alles Scheiße, wie früher“, sagte einer der jungen Armenier.
Vertrauen ist in diesen Ländern immer noch die Mutter des Reinfalls. Wer zu Hause bleibt und auf ein Wunder hofft, der wird, früher oder später, mit dem Bettelstab bestraft.
„Was soll ich in Bulgarien“, fragt völlig konsterniert ein Vierzigjähriger den jungen Grenzbeamten, der ihm und der Gruppe gerade klar machte, daß es morgen wieder dahin geht, wo sie hergekommen sind.
Seit einem Monat ermittelt eine Sonderkommission des BGS gezielt gegen einen bulgarischen Schlepperring. Erstmals ist deshalb ein Blick in die Spielregeln des Menschenhandels möglich: Ein Mann, den alle „Gamba“ nennen, verspricht Bulgaren türkischer Abstammung in den drei Regionen Razgrad, Schumen und Warna die Chance, in Deutschland mehr zu verdienen, als es zu Hause noch in diesem Leben je möglich sein wird.
Wer nicht widerstehen kann, bucht bei ihm die Fahrt ins Glück. Sechs Reisebüros, alle in der Stadt Razgrad ansässig, organisieren den Treck wie eine Pauschalreise. Kosten pro Kopf: 2.000 Lewa, je nach Kurs zwischen 80 und 260 Mark. Dafür geben die Angeworbenen zu Hause Haus und Hof auf.
In Polen werden die Pässe abgenommen – als Pfand, denn der Tritt über die Grenze kostet extra: 200 Mark. Wenn sie in Deutschland ihr erstes Geld bekommen haben, lösen sie den Paß wieder aus. Weil das erste Geld aber meistens aus der Sozialhilfe stammt, leben die Schlepper praktisch von deutschem Steuergeld.
Ein Millionengeschäft. Der Mensch als Ware, den man so lange profitabel bewegen kann, wie es ihm schlecht geht. Und da ist kein Ende abzusehen.
Die Schlepper und Schleuser freuen sich schon, sollte das Grundrecht auf Asyl weiter eingeschränkt werde, Dann ist, noch viel mehr als jetzt, ihre Hilfe gefragt. Eine restriktive Gesetzgebung ist für sie kein Hindernis. Sie, die Überleben in 40 Jahren lausiger kommunistischer Verhältnisse trainiert haben, kennen alle Tricks. Und das bringt Geld.
Der Mann, der die 20 Bulgaren jetzt auffordert, ihre Taschen zu nehmen und ihm im Gänsemarsch zu folgen, ist ein Schleuser. In seinem bulgarischen Paß prangt ein Ausweisungsstempel der deutschen Behörden. Seit dem 29. September sollte er Deutschland verlassen haben. Als er mir den Paß zeigt, schüttelt er lächelnd den Kopf. Über soviel Naivität kann er sich nur wundern.
Die Uhr zeigt 3 Uhr 35. Das Quecksilber hat sich auf zwei Grad unter Null verkrochen. Das Wasser der Neiße ist eiskalt. Erst steigt der Schleuser hinein, dann die Gruppe.
Die ersten Meter sind flach, dann wird es tiefer. Eine Frau steht bis zum Bauch im Wasser, bekommt Angst, will schreien, reißt sich zusammen, bleibt ruhig. Die Männer halten die Kinder auf dem Arm, versuchen erfolglos zu verhindern, daß die Kleinen naß werden. Die Frauen hinter ihnen halten die Taschen mit den Sachen zum Wechseln so gut es geht über die schmutzige Brühe. Der Schleuser ruft leise: „Kommt, kommt.“
Nach 15 Minuten sind alle in Deutschland. Die Kleinsten stehen da, zittern vor Kälte und blicken mit starren Augen in die Nacht. Auch die Erwachsenen brauchen einen Augenblick, um zu glauben, was gerade geschehen ist. Dann ziehen sich alle blitzschnell um. Die nassen Sachen werden einfach liegengelassen, der BGS wird sie morgen finden, als Bestätigung, daß auch in dieser Nacht alles seinen nachsozialistischen Gang gelaufen ist.
Die Menschen verstecken sich kurz im kniehohen Schilf, und als sie dann zu den Taxen laufen, die sie abholen, gehen sie lautlos, gebückt und vorsichtig. Denn ans Ziel seiner Wünsche kommt nur, wer nicht gesehen wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen