: Gatt – ein modernes Glaubensbekenntnis
■ Im wirklichen Leben vertritt jede Regierung selbst kleinste Partikularinteressen
Der erfolgreiche Abschluß der Gatt-Verhandlungen ist ein klarer Fall für Radio Jerewan: Im Prinzip sagen alle Verhandlungsteilnehmer ja zum „dringend notwendigen Durchbruch“ bei der sogenannten Uruguay-Runde. Jenseits des Prinzips sabotieren jedoch ausgerechnet die Initiatoren des Verhandlungsmarathons über eine weitere Liberalisierung des Welthandels, die Regierungen der USA und der EG, deren erfolgreichen Abschluß. Selbst die Bauern haben das entschiedene Sowohl-als- Auch übernommen: Viele der 50.000 demonstrierenden Landwirte sammelten sich am Dienstag in Bonn hinter den Plakaten mit der Aufschrift „Gatt ja, aber Bauernruin nein“. Und während bei manchen linken Dritte-Welt-Aktivisten vor allem die griffige „Gattastrophe“ hängengeblieben ist, verlangen heute ausgerechnet die Gatt-Unterhändler des Entwicklungslandes Brasilien heftig nach jenem Vertragswerk, das sie zu Beginn der Verhandlungen im September 1986 noch ebenso vehement abgelehnt haben.
Gerade in den armen Ländern dürfte sich diese Woche Erleichterung darüber breitmachen, daß der EG-Ministerrat explizit gegen Frankreich den Agrarkompromiß mit den USA angenommen hat und in Genf seit gestern weiterverhandelt wird. Bereits jetzt gehen den armen Ländern jährlich 100 Milliarden US-Dollar an Handelseinnahmen verloren, weil die Industriestaaten besonders seit Beginn der Uruguay-Runde immer neue Importschranken errichtet haben. Das jedenfalls hat die britische Organisation Oxfam errechnet, die sich für einen fairen Handel mit der Dritten Welt einsetzt. Danach kostet die Entwicklungsländer allein das bis zu einem neuen Gatt- Abkommen gültige Welttextilabkommen, das vor allem die Textilproduzenten der westlichen Industrieländer vor südlicher Billigkonkurrenz schützt, 13 Milliarden US- Dollar jährlich.
Selbstverständlich sind sich auch die Entwicklungsländer, die sich im Prinzip von einer neuen Gatt-Vereinbarung mehr Vorteile als Nachteile versprechen, in vielen Bereichen höchst uneins. So müßten etwa jene 68 Länder des afrikanisch-karibisch-pazifischen Raums (AKP-Staaten) Nachteile durch das Gatt hinnehmen, weil damit auch das Lomé-Abkommen mit der EG hinfällig würde. Dieses Abkommen von 1989 räumt den AKP-Staaten wichtige Handelsbegünstigungen ein.
Der Nachteil für die AKP-Staaten würde wiederum den Großexporteuren landwirtschaftlicher Güter in Asien und Lateinamerika zum Vorteil gereichen: Sie könnten bei gleichen Handelsregeln für alle 108 Gatt-Staaten mit ihren Agrarprodukten den Weltmarkt zum größten Teil für sich erobern – ähnlich wie die Textilindustrien Asiens. Vor dem niedrigen asiatischen Lohnniveau zittern unterdessen Industrielle und ArbeiterInnen in der Südsee, die derzeit noch Vergünstigungen auf dem australischen und neuseeländischen Markt genießen. Gerade die Länder, die erst dabei sind, eine Industrie aufzubauen, versuchen zunächst, diese vor der übermächtigen Weltmarktkonkurrenz zu schützen.
Mit den EG-Bauern, die ihre subventionsgesteuerte Überproduktion ohne Staatshilfen nirgends auf dem Weltmarkt absetzen könnten, würden ebenfalls viele Textilarbeiterinnen in Westeuropa ihre Arbeitsplätze verlieren. Allerdings: Der Reichtum des Nordens wird nicht auf Mais- und Rapsfeldern erwirtschaftet, sondern in der Industrie, die sich von der Gatt- Runde verbesserte Marktchancen erhofft. Der EG-Ministerrat handelt somit im ökonomischen Interesse der Bevölkerungsmehrheit, wenn er ein Bauernopfer bringt.
Jenseits dieser Interessengegensätze werden die Gatt-Verhandlungen immer wieder von den Industriestaaten blockiert. So ging die Initiative für die Uruguay- Runde 1986 von der US-Regierung aus, die damit das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen zur umfassenden Welthandelsorganisation ausbauen wollte. Deshalb wurde das Gatt-Themenspektrum von klassischen Zöllen auf protektionistische Maßnahmen überhaupt ausgeweitet.
Seit 1986 allerdings haben etliche Entwicklungsländer ihre Volkswirtschaften erfolgreich auf den Export ausgerichtet – nur um die Erfahrung zu machen, daß parallel dazu die USA und die EG neue Schutzwälle um ihre jeweiligen Märkte gezogen haben. Entsprechend treten heute die Entwicklungsländer im wohlverstandenen Eigeninteresse tatsächlich für den freien Welthandel ein; während die Fensterredner der Industrienationen den „Durchbruch bei der Uruguay-Runde“ zwar weiterhin wollen – aber oftmals nur im Prinzip. Donata Riedel
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