: Ost: Niemand sieht den Silberstreif
■ Das ostdeutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Halle malt die schwärzeste Wirtschaftsprognose 1993 für die neuen Bundesländer/ Skepsis gegenüber Erhaltungssubventionen für industrielle Kerne
Berlin (dpa/taz) – Aus der ostdeutschen Perspektive sind die Zukunftsaussichten für die Bundesrepublik offenbar noch düsterer als aus westlichem Blickwinkel betrachtet. Die ForscherInnen des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) haben eine deutlich schwärzere Prognose für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der Ostbundesländer vorgelegt als ihre fünf Schwesterinstitute in Westdeutschland und der Sachverständigenrat der Fünf Weisen.
Das Wirtschaftswachstum in den neuen Ländern wird sich danach – gemessen am realen Bruttoinlandsprodukt – nach 2,5 Prozent im laufenden Jahr auf fünf Prozent erhöhen (das Bruttoinlandsprodukt erfaßt die Wertschöpfung im Inland, läßt dabei aber anders als das Bruttosozialprodukt die Wirtschaftsbeziehungen zum Rest der Welt außer acht). Die fünf Professoren aus dem Sachverständigenrat hatten in ihrem Herbstgutachten Ende Oktober Ostdeutschland ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 7,5 Prozent für 1993 vorhergesagt.
Positiv werten die ostdeutschen Wirtschaftsforscher allerdings ihre Erwartung, daß erstmals seit der Wiedervereinigung von den Investitionen größere Wachstumsimpulse ausgehen werden als vom privaten Konsum. Dennoch – und da sind sich die IWH-Volkswirte mit den Sachverständigen einig – wird die Zahl der Erwerbstätigen nochmals um 300.000 Personen abnehmen. Von größeren Wohnungen werden die Menschen in Ostdeutschland auch weiterhin nur träumen können, denn der Wohnungsbau bleibt danach weiterhin schwach.
IWH-Präsident Manfred Wegner, der sein Herbstgutachten gestern in Berlin vorstellte, hält nicht viel von den Gesetzen und Förderrichtlinien, die sich die Bonner Ministerialbürokratie seit der Wirtschafts- und Währungsunion ausgedacht hat. Er forderte eine neue Kommission Ost, welche zur „Entrümpelung gesetzlicher Vorschriften“ schreiten solle. Das Gesetzesgestrüpp für die Fördermittel Ost sei der Investitionsdynamik derzeit höchst hinderlich.
Besorgt zeigt sich das IWH über eine Deindustrialisierung Ostdeutschlands. Die Gefahr wachse, daß die industrielle Basis auf absehbare Zeit nicht ausreichen werde, um der ostdeutschen Wirtschaft das Fundament für einen soliden und dauerhaften Aufschwung zu sichern. Dennoch wären „Bestandsgarantien für ganze Sektoren oder Regionen“ unangebracht, meint das IWH. Es helfe wenig, die knappen Kapitalressourcen für die „Strukturkonservierung“ zu verschwenden.
Industrielle Kerne müßten erhalten bleiben, aber nach Meinung von Wegner nicht unter der Regie der Treuhandanstalt. Die Kritik des IWH an der Treuhand richte sich weniger gegen die Privatisierung, sondern werde von der Sorge bestimmt, daß diese mit ihrer Politik einem industriellen Kahlschlag Vorschub leiste. Die noch bei ihr angesiedelten Unternehmen sollten schnell privatisiert werden, um sich frei entfalten zu können. Ihren Budgetrahmen von 30 Milliarden DM wird die Treuhand nach Ansicht des IWH im nächsten Jahr sowieso überschreiten.
Anlaß zur Hoffnung für die neuen Länder gebe eine „erstaunliche Resistenz“ der Investitionsvorhaben gegenüber der Konjunkturflaute im Westen. 1992 erreichten die Bruttoanlageinvestitionen fast hundert Milliarden DM. Sie dürften 1993 auf gut 120 Milliarden DM steigen. Damit würden die Investitionen je Einwohner nahezu das Niveau Westdeutschlands erreichen.
Für Westdeutschland erwartet derweil der Unternehmensberater Roland Berger 1993 einen massiven Einbruch der deutschen Wirtschaft, nicht nur ein Nullwachstum, wie die Sachverständigen prognostizieren. Berger, Geschäftsführer der größten Unternehmensberatungsgesellschaft der Republik, warnte gestern vor einem Rückgang der Industrieproduktion im nächsten Jahr, der drei bis fünf Prozent erreichen könnte. dri
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