: Ein Todesurteil vor Gericht
In Leipzig ist der ehemalige Richter Otto Jürgens wegen Mordes an einem Nazi-Staatsanwalt angeklagt/ Vom schwierigen Umgang mit den Waldheimer Prozessen im Jahre 1950 ■ Aus Leipzig Julia Albrecht
Niemals wird er auch nur einen Fuß in ein Gefängnis setzen müssen. Selbst wenn das Gericht wegen Mordes auf lebenslängliche Haft erkennen wird, muß Otto Jürgens, 86, seine Strafe nicht antreten. Er ist haftunfähig, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Zu jedem Verhandlungstermin vor dem Leipziger Bezirksgericht reist er mit dem Zug aus Halle an. Dort sitzt er in dem Saal 115, an dessen Wänden noch die Schatten von Hammer und Zirkel zu erkennen sind. Zwischen seinen Anwälten plaziert, verfolgt er, entspannt zurückgelehnt, das Verfahren gegen sich, ein Verfahren, das wie viele andere erst durch die Wiedervereinigung möglich wurde. Der Richter des untergegangenen Staates ist angeklagt wegen Mordes an Heinz Rosenmüller, Staatsanwalt am Sondergericht Dresden zwischen 1933 und 1945.
„Uns wurde mitgeteilt“, rekonstruiert der Angeklagte die Ereignisse des Jahres 1950, „daß es sich bei den Waldheimer Prozessen um die Verurteilung von maßgeblichen Nazis handelt, die Menschlichkeitsverbrechen gemacht haben und binnen kurzer Zeit abzuurteilen“ seien. In 32 Fällen wurden damals Todesurteile ausgesprochen, eines gegen Heinz Rosenmüller. Der Angeklagte war beisitzender Richter. In der Nacht vom 4. zum 5. November 1950 wurde vollstreckt.
In seinen Einlassungen bestätigt Jürgens, was von den Waldheimer Prozessen bereits an die Öffentlichkeit gelangt ist: Verteidiger waren nicht zugelassen, Entlastungszeugen wurden nicht gehört, die Öffentlichkeit war ausgeschlossen, eine Beweisaufnahme fand nicht statt. „Als Grundlage für die Verhandlungen diente ein Protokoll der sowjetischen Behörden“, äußert der Angeklagte. Der von München nach Leipzig übergesiedelte Richter Wolfgang Helbig gibt sich erstaunt. Er verliest das besagte Protokoll: „Rosenmüller, Heinz, 1903 in Dresden geboren, Staatsanwalt und Journalist, 1933 Eintritt in die NSDAP, verheiratet, von 1933 bis 1945 als Jurist bei der Staatsanwaltschaft Dresden“. Da stehe nichts drin von Sondergericht oder Todesstrafen, die Rosenmüller beantragt haben soll, da stehe überhaupt nichts drin, sagt Helbig, was eine Verurteilung Rosenmüllers begründe. Jürgens erinnert sich, daß als weitere Verfahrensgrundlage die Vernehmungen der Volkspolizei dienten. Auch aus diesem Dokument verliest der Vorsitzende. „Außerdem hatte ich Volksschädlingsverbrechen und Verbrechen nach dem Heimtückegesetz zu verhandeln. Hier sind zum Teil sehr hohe Strafen bis zur Todesstrafe ausgesprochen worden.“
Staatsanwalt Dietrich Bauer aus Stuttgart hat umfangreiche Recherchearbeit geleistet. Alle Unterlagen, die die Waldheimer Prozesse betreffen, hat er in verschiedenen Archiven in Berlin, Potsdam und Dahlwitz-Hoppegarten gefunden. Ein manchmaliges Lächeln seinerseits läßt vermuten, daß er die Antworten auf die Fragen, die dem Angeklagten gestellt werden, genauer beantworten könnte als dieser, daß die Unterlagen Details enthalten, die er erst später präsentieren will. Da ist vor allem die Frage, für welche Strafe Jürgens in dem Verfahren gegen Rosenmüller gestimmt habe. „Ich sagte, daß es eine harte Strafe sein müsse. Ich war für lebenslänglich. Darüber wurde dann abgestimmt. Ich blieb bei meiner Meinung, wurde aber von dem Vorsitzenden und den Schöffen überstimmt, sie waren für die Todesstrafe.“
Über das Ausmaß dessen, was Rosenmüller als Staatsanwalt vor dem Sondergericht Dresden getan hat, „wissen wir nicht mehr“, als es sich aus den erhaltenen Protokollen ergibt, sagt der Staatsanwalt. „In einem Rechtsstaat aber hat selbst der schlimmste Übeltäter einen Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren.“ Dann erklärt er die Konstruktion des Mordvorwurfs gegen den Angeklagten Jürgens. Wäre der hingerichtete Rosenmüller in einem rechtsstaatlichen Verfahren zum Tode verurteilt worden, wären also die strafprozessualen Regeln, die auch nach den damaligen Kontrollratsgesetzen der Alliierten anzuwenden waren, befolgt worden, dann könnte man dem Richter heute keinen Vorwurf machen. Aber die „Rechtmäßigkeit“ der Tötung entfällt dann, wenn sie durch Rechtsbeugung zustande kam. Was aber wäre, wenn der hingerichtete Rosenmüller tatsächlich einer jener „furchtbaren Juristen“ gewesen ist, die wegen Nichtigkeiten die Todesstrafe beantragt hat? Ließe sich dann der Mordvorwurf gegen Jürgens anders beurteilen? Mitnichten. „Bei den Todesurteilen sind Fälle darunter, bei denen vorstellbar ist, daß sie in einem ordentlichen Verfahren zum Tode verurteilt worden wären“, sagt der Staatsanwalt — vielleicht auch Rosenmüller. Aber das hat keine Bedeutung. In diesem Verfahren geht es nicht um die Frage, was Rosenmüller tatsächlich getan hat. Allein die Tatsache, daß der Angeklagte keine Chance hatte, sich zu verteidigen, daß seine Schuld nicht positiv bewiesen wurde, zählt.
Vielleicht deshalb, vielleicht weil es nur um den Ablauf der damaligen Verfahren geht, gewinnt die Zuhörerin keinen Eindruck von dem, was damals wirklich geschehen ist. Die Prozesse in Waldheim, wo in wenigen Wochen 3.432 Angeschuldigte in Schnellverfahren zu Hoch- und Höchststrafen verurteilt wurden, wo die Beschuldigten, nachdem sie bereits fünf Jahre in sowjetischen Internierungslagern gesessen hatten, gar nicht wußten, wie ihnen geschah, wo nicht differenziert wurde zwischen wirklichen Verbrechern und kleinen Mitläufern, die Prozesse bleiben blaß.
Wie sah es aus auf diesem Gefängnisgelände, das 1868 auf den Grundmauern eines alten Schlosses errichtet wurde? Wo wurden die Verfahren abgehalten? Die Aussagen hierzu sind widersprüchlich. Einige Zeugen meinen, daß in der Haftanstalt selbst Gericht gehalten wurde, andere sind der Ansicht, daß die Inhaftierten zu den Prozessen das Gefängnisgelände verließen. Wie war der Tagesablauf, wie war die Routine der Verhandlungen, die da in vollkommenem Abseits stattfanden und von denen die Öffentlichkeit erst am 16. Juni 1950 durch eine Zeitungsnotiz erfuhr, als bereits 2.981 Verfahren durch Urteile abgeschlossen waren.
Auch ein Bild des Angeklagten mag sich nach sechs Verhandlungstagen nicht herstellen. Allein die rege Aufmerksamkeit, mit der er das Verfahren verfolgt, das verhaltene Lächeln, als er den Aussagen der Protokollantinnen der Waldheimer Prozesse, die als Zeuginnen gehört werden, lauscht, bleibt haften. Seine Einlassungen zur Sache sind genauso nichtssagend wie die der Zeugen. Woran liegt das? Kein Wort bisher von der damaligen DDR, nur eine vage Benennung einer „Kommission“, bestehend aus Vertretern des Justizministeriums, des ZK der SED und der Hauptverwaltung der Volkspolizei, die eine markante Kontrollfunktion über die Prozesse der rund 20 Strafkammern ausübten. Unerwähnt die ideologische Vorgabe der SED, mittels der Waldheimer Prozesse den Boden für „den antifaschistischen Staat auf deutschem Boden“ zu bereiten. Auch die Rolle der sowjetischen Besatzungsmacht, die die Waldheim-Häftlinge zur Aburteilung an die DDR-Führung aus sowjetischen Internierungslagern übergeben hatte, bleibt im dunkeln.
In dem Prozeß gegen Jürgens dreht sich alles um die Frage des damaligen Procederes. Andere Aspekte bleiben ausgeblendet. Zum Auswendigsagen die Fragen des Richters an die Zeugen der damaligen Prozesse. Gab es Verteidiger, wurde über die Urteile beraten, wurde die Öffentlichkeit zugelassen. Richter Helbig, im Gespräch mit dem Angeklagten, also gewissermaßen von du zu du, von Richter zu Richter, souverän, vermag bei der Befragung der Protokollantinnen den richtigen Ton nicht zu finden. Diese Fragen bringen bei den Protokollantinnen keine Seiten zum Schwingen, lösen keine Erinnerung aus. Keine Sensibilität dafür, daß das Augenmerk dieser Beteiligten vielleicht gerade nicht auf diesen Details haftete, sondern auf Nebenschauplätzen. Etwa die Spaziergänge der Protokollantin Helene Hofmann. In ihrer raren Freizeit verließ sie mit einer Kollegin den Prozeßalltag. Daran erinnert sie sich. Davon will sie dem Gericht erzählen. Doch der Richter unterbricht sie. Von Naturerlebnissen verspricht er sich keine Aufklärung. Daß in der Wiedergabe der Gespräche der beiden Frauen vielleicht Details enthalten wären, die der Blässe des bisher Referierten Farbe verliehen, entgeht dem Gericht.
Zeugen wie Erwin Krombholz, in Waldheim wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der nationalsozialistischen Untergrundsorganisation Wehrwolf als Kriegsverbrecher zu 15 Jahren verurteilt, sind für das Gericht besser verwertbar. Als Verurteilter, dem sämtliche Rechte eines Angeklagten vorenthalten wurden, ist er der Beweisaufnahme dienlich. Kein Verteidiger, keine Zeugen, keine Öffentlichkeit.
Der angeklagte Richter muß sich neben dem Mordvorwurf auch wegen Rechtsbeugung verantworten. Sollte das Gericht es als erwiesen ansehen, daß Jürgens wissentlich die Vorschriften über das Procedere mißachtet hat, stünde einer entsprechenden Verurteilung nichts im Wege. Oder? Der Tatbestand der Rechtsbeugung ist seit Unendlichkeiten verjährt. Allein ein Gesetz, welches die 40 Jahre DDR als Ruhen der Rechtspflege bewertete, würde dieses Verfahrenshindernis beseitigen. Vorbild für ein entsprechendes Gesetz wäre der Umgang mit den 12 Jahren NS-Justiz.
Ein Richter steht vor Gericht. Und mit ihm die DDR-Justiz in ihrem Umgang mit dem Nationalsozialismus. So wie damals Rosenmüller muß sich heute Jürgens vor einem Gericht verantworten, weil er in einem untergegangenen Staat als Richter bzw. Staatsanwalt die Justiz mitbestimmt hat. So wie Rosenmüller 1950 vorgeworfen wurde, daß er zu Unrecht für Todesurteile plädiert habe, wird Jürgens heute wegen des Todesurteils gegen Rosenmüller der Prozeß gemacht. Doch anders als bei dem Verfahren gegen Rosenmüller kann Jürgens sich in einem rechtsstaatlichen Verfahren verteidigen. Er hat Verteidiger, die Öffentlichkeit ist zugelassen, die Beweisaufnahme umfangreich.
Daher ist es sehr wohl möglich, daß Jürgens von dem Mordvorwurf freigesprochen wird. Sofern das Gericht ihm nicht nachweisen kann, daß er für die Todesstrafe gestimmt hat, bleibt es bei dem „in dubio pro reo“. Wenn er am Ende aber doch des Mordes für schuldig befunden wird, wird er sich die Urteilsverkündung anhören, lächelnd, vielleicht ernst. Dann wird Jürgens in den Zug nach Halle steigen.
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