Ein Apparatschik als russischer Premier

Ministerpräsident Tschernomyrdin spricht von Verlangsamung der Reformen/ Welche Minister gehen, steht noch aus/ Jelzin ließ Gaidar im letzten Moment fallen  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Erinnerungen an alte, ungeliebte Zeiten wurden wach, als Rußlands neuer Zufallspremier Viktor Tschernomyrdin sich gestern der Öffentlichkeit präsentierte: das Klischee eines Apparatschiks vom Scheitel bis zur Sohle, farb- und konturlos, mit einem Wort, ein grauer Anzug. In seinen ersten Stellungnahmen versprach er, den Reformkurs der Regierung Gaidar nicht rückgängig zu machen. Im gleichen Atemzug bekannte er jedoch sein Credo: „Ich glaube, die Reformen sollten jetzt einen etwas anderen Ton annehmen, sich in ein anderes Stadium bewegen und der Produktion mehr Aufmerksamkeit widmen.“

Damit ist klar, daß der monetäre Ansatz Jegor Gaidars ad acta gelegt wird. Die gefräßige Lobby der staatlichen Industrien kann sich auf großzügige Zuwendungen einstellen, die ihr zwischenzeitlich das Überwintern sichern. Denn Tschernomyrdin, der in der Postsowjetära noch einmal den sowjetischen Traum wahr machen konnte– vom Arbeiter über den Parteiapparatschik in ein Fachministerium und dann an die Spitze der Regierung –, ist unzweideutig ihr Mann.

Der neue Premier bat zunächst die alten Minister, noch im Amt zu bleiben. Außenhandelsminister Pjotr Aven, der stellvertretende Vizepremier Alexander Schochin, Wirtschaftsminister Netschajew und Privatisierungsminister Anatoly Tschubais kündigten dagegen ihren geplanten Rücktritt an. Lediglich der stellvertretende Vizepremier Wladimir Schumeiko signalisierte seine Bereitschaft zu weiterer Mitarbeit. Er war als Kompromißkandidat der Industriellen im Sommer ins Kabinett Gaidar gelangt und machte eine Metamorphose zum Befürworter des Regierungskurses durch.

Auf völliges Unverständnis stieß im demokratischen Lager das Verhalten von Präsident Boris Jelzin. Noch bis zum Wochenende hatte er mit dem widerspenstigen Kongreß verbissen um Gaidar gerungen. Das Wahlergebnis vom Montag räumte ihm sogar die Chance ein, Gaidar entweder zu ernennen oder ihn als amtierenden Premier bis zum nächsten Kongreß auf seinem Posten zu lassen. Statt dessen soll er Gaidar im letzten Moment gedrängt haben, auf die Kandidatur zu verzichten. Jelzin drehte den Sachverhalt dann so, als hätte der Wirtschaftsarchitekt die Entscheidung selbst getroffen.

Eigentlich hatte Gaidar auch ohne Premierswürde in der Regierung bleiben wollen, wie er noch vor kurzem erklärte. Jelzin soll ihm nach der Wahl Tschernomyrdins das Amt des Staatssekretärs angetragen haben, das der kürzlich vom Kongreß weggeekelte Jelzin-Intimus Burbulis innehatte. Gaidar lehnte kategorisch ab, was auf ein tiefes Zerwürfnis mit dem Präsidenten hindeutet. Aus seiner Enttäuschung machte er vor der Kamera kein Hehl. Seinen ehemaligen Kabinettskollegen empfahl er dennoch, bei der Stange zu bleiben.

Jelzin hat sich eingemauert und steht heute da wie jemand, der begriffen hat, daß er einen großen Fehler begangen und die Krise selbst zu verantworten hat. Welche Kräfte auf ihn einwirken und diese Bewußtseinstrübung forciert haben, läßt sich schwer ausmachen. Der Präsident verhält sich selbst wie ein alter Apparatschik, der kalte Füße bekommen hat. Die Nomenklatura schlich sich in der letzten Zeit durch die Hintertür an Jelzin heran. In kritischen Momenten war es dem Kämpfer sonst immer gelungen, sich freizuboxen. Diesmal hat er versagt und sich vor den Kräften gebeugt, die er eigentlich verjagen wollte. Noch eine andere Erklärung seines eigenartigen Verhaltens macht die Runde. Von einem taktischen Vorgehen ist die Rede, damit sich die Opposition in der Regierungsverantwortung bis zum nächsten Volksdeputiertenkongreß diskreditiert. Doch ein solches Kalkül wäre ein hoher Einsatz und verlangt eine Menge strategischer Voraussicht, die Jelzin zur Zeit vermissen läßt. Das demokratische Spektrum drohte gestern an, nun endgültig auch in Opposition zu Jelzin zu gehen.